Die etwas kostspieligeren Retortenkinder

  09 Juli 2016    Gelesen: 819
Die etwas kostspieligeren Retortenkinder
Kinderlosigkeit wird von vielen Kliniken zum Vorwand für teurere und oft unnütze Techniken genommen: das Elend mit Sameninjektionen.
Reproduktionsmediziner nehmen offensichtlich zu falschen Versprechungen Zuflucht. Sie spielten Weihnachtsmann und teilten „hübsch verpackte, aber unnötige, ineffektive und überteuerte Geschenke“ aus. So lautet der Vorwurf von Hans Evers, dem Chefherausgeber des einflussreichsten Fachjournals „Human Reproduction“, der jetzt im Juliheft der Zeitschrift abgedruckt ist (Bd. 31(7), S. 1381).

Evers bezieht sich auf die im gleichen Heft analysierten Ergebnisse einer weltweiten Datenerhebung unter fast 2500 Reproduktionskliniken, die in den Jahren 2008, 2009 und 2010 in 58 bis 61 Ländern stattfand. Dabei zeigte sich, dass in manchen Regionen, speziell im Nahen Osten und dort vor allem in Israel, das sogenannte ICSI-Verfahren bei fast hundert Prozent der künstlichen Befruchtungen zur Anwendung gelangt. Das spricht allem evidenzbasierten medizinischen Wissen zum rationalen Einsatz künstlicher Befruchtungsmethoden sowie den Empfehlungen der Fachgesellschaften hohn.

Denn geht es um Kinderlosigkeit, so liegt in höchstens 40 Prozent der Fälle die Ursache beim männlichen Partner. Hierfür - und nur hierfür - ist bei der künstlichen Befruchtung die ICSI vorgesehen, die intrazytoplasmatische Spermieninjektion.

ICSI ist nicht immer eine gute Lösung

Statt in einer Petrischale die Eizelle mit möglichst vielen Spermien zusammenzubringen - so funktioniert die „normale“ In-vitro-Fertilisation -, wählt bei ICSI der Mediziner mit der Pipette nur eine einzige Samenzelle aus und injiziert diese in die Eizelle. Damit assistiert er zum Beispiel schlecht beweglichen und schwachen Samenzellen.

Auch für den Fall, dass das Ejakulat eine zu geringe Menge an Spermien enthält, sollen so die Erfolgschancen für eine Laborzeugung erhöht werden. Außerhalb solcher Bedingungen lassen sich die Ergebnisse einer künstlichen Befruchtung mittels ICSI nicht verbessern, das ist in zahlreichen Untersuchungen gezeigt worden.

Im Gegenteil: Evers zitiert die Ergebnisse einer Arbeit aus den Vereinigten Staaten, wonach bei jenen Paaren, bei denen die Ursache der Kinderlosigkeit nicht beim Mann liegt, die Lebendgeburtsrate nach ICSI in allen Altersgruppen unter 43 Jahren geringer ist, die Chancen normaler künstlicher Befruchtung also besser gewesen wären.

Risiken bei künstlicher Befruchtung

Warum dennoch derart häufig das ICSI-Verfahren zur Anwendung kommt, sei letztlich unklar. Erst im Mai dieses Jahres ist in der Fachzeitschrift „Fertility & Sterility“ eine Arbeit erschienen, wonach ICSI im Vergleich zu IVF mit einem fast vierfach erhöhten Risiko für Geburtskomplikationen einherging.

Insbesondere kam es häufiger zu Verwachsungen des Mutterkuchens, der Plazenta, mit der Gebärmutterschleimhaut, was bei der Geburt zu bedrohlichen Blutungen für Mutter und Kind führen kann. Auch überhöhter Blutdruck bei der Mutter, verbunden mit der Gefahr für Krampfanfälle, Wachstumsstörungen und ein zu niedriges Geburtsgewicht des Kindes, zählten zu den genannten ICSI-Risiken. Dennoch schwören offenbar nicht nur Ärzte im Nahen Osten auf ICSI.

In Lateinamerika kommt die Spermieninjektion sechsmal so oft zur Anwendung wie eine konventionelle künstliche Befruchtung (IVF), in Nordamerika liegt die Rate 2,7 Mal so hoch und in Europa immerhin doppelt so hoch. Auch in Deutschland werden mehr Spermieninjektionen vorgenommen, als gerechtfertigt wäre.

Was ist wann gerechtfertigt?

Im Jahr 2013 kam eine gewöhnliche IVF in 12 421 Fällen zur Anwendung, im Vergleich dazu aber 41 723 mal ICSI. Dabei zahlen dann die Patienten und die Krankenkassen in vielen Fällen ohne Grund mehr für eine Behandlung, die keine Vorteile und vermutlich Nachteile bringt.

Für Paare in der gesetzlichen Krankenversicherung fallen ausweislich einer Kinderwunschpraxis in Berlin für ICSI 813,28 Euro an, für IVF sind es 631,65 Euro. Für Privatpatienten kann eine ICSI bis zu 7500 Euro kosten, eine IVF aber nur bis zu 3000 Euro.

Erstaunlicherweise fühlen sich die Fertilitätskliniken weltweit offenbar nicht einmal bemüßigt, eine Diagnose anzugeben, die eine ICSI rechtfertigen würde. Der aktuelle Bericht weist zum Beispiel aus, dass bei den „frischen Zyklen“ (das sind solche, die keine eingefrorenen und wieder aufgetauten Embryonen verwenden) in 65,1 Prozent ICSI zur Anwendung kam. Allerdings wurde dabei nur in 35,8 Prozent männliche Zeugungsunfähigkeit als Grund angegeben.


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