“Niemand hilft uns außer Israel“

  11 Juli 2016    Gelesen: 734
“Niemand hilft uns außer Israel“
Israel und Syrien sind Erzfeinde. Trotzdem hilft ein israelisches Krankenhaus den Verwundeten des syrischen Bürgerkriegs. In der Klinik lernen Patienten, die Feinde neu zu sehen. Zumindest manche.
Die Bettdecke verbirgt die große Wunde in Abu Muhammads Bein. Wer ihn so in seinem Bett lächeln sieht, könnte auch die große Narbe in seinem Nacken übersehen. "Hier gibt es dreimal täglich eine Mahlzeit", sagt der junge Syrer und wirkt sehr zufrieden. Das ist erstaunlich, nicht nur wegen seiner Wunden. Denn Abu Muhammad, Kämpfer einer syrischen Rebellengruppe, liegt auf der Krankenstation des Siv-Hospitals in der Stadt Safed. Im Norden Israels, im Feindesland also.

Das ist revolutionär: Seit der Staatsgründung ist Syrien Israels Erzfeind. Viermal führte man gegeneinander Krieg. Das Regime in Damaskus ist ein enger Verbündeter des Iran, der den jüdischen Staat vernichten will. Es unterstützt palästinensische Terrororganisationen und die Hisbollah, die Israel auslöschen wollen. Kein Tourist, in dessen Pass sich ein israelischer Stempel findet, darf in Syrien einreisen. Das Gesetz verbietet Syrern, Israel zu besuchen. Kontakte waren undenkbar. Bis der Bürgerkrieg begann.

Er schob Wache, als eine Panzergranate neben ihm einschlug

Hier im Feindesland ist Abu Muhammad, Angehöriger einer syrischen Rebellengruppe, in Sicherheit. Er muss sich keine Gedanken über sporadischen Artilleriebeschuss machen. Nicht, wie seine Frau und sein kleines Kind, die in seinem Heimatdorf Dschibat al-Chaschab auf den Golanhöhen jenseits der Grenze geblieben sind.

An den Tag, dessen Ereignisse Abu Muhammad schließlich nach Israel führen sollten, erinnert er sich noch sehr genau. Vor drei Jahren schob er wie üblich vor seinem Dorf Wache, als eine Panzergranate direkt neben ihm einschlug. Heiße Splitter bohrten sich in seine Wade, Schmerz und Druckwelle nahmen ihm das Bewusstsein. Seine Kameraden brachten ihn in ein Lazarett, doch da konnte man ihm kaum helfen. Wohin mit dem Schwerverletzten in einem Land, in dem das Gesundheitssystem zusammenbricht und medizinische Einrichtungen bombardiert werden? Ohne sofortige Hilfe drohten dem Bewusstlosen Amputation oder Tod. Also entschlossen sich seine Ärzte, ihn an den Grenzzaun zu Israel zu bringen. Damals war unklar, wie Israel reagieren würde.

Als Abu Muhammad zum ersten Mal in Israel aufwachte, war er tief verängstigt. Er fürchtete, dem syrischen Regime ausgeliefert zu werden. Die ersten blutverschmierten Überweisungsbriefe der syrischen Ärzte, welche die Krankenhaussprecherin Hanna Bickel aufbewahrt hat, sind aus diesem Grunde auch nicht namentlich unterschrieben: Sie fürchteten die Rache des syrischen Regimes oder der Islamisten an jedem, der sich Hilfe suchend an Israel wandte. Jahrzehnte predigten die Syrer Hass gegen Israel. Doch diese Gefühle sind Abu Muhammad heute fremd: "Niemand hilft uns außer Israel", sagt der junge Mann dankbar. Es ist für ihn Gewohnheit, von Israelis geheilt zu werden.

Der idyllische Anblick trügt

Abu Muhammad war einer der ersten Syrer, die in Israel behandelt wurden – und blieb kein Einzelfall: Rund 2300 kriegsverletzte Syrer folgten. Manche werden wie Abu Muhammad sogar wiederholt hier behandelt – auf Kosten der israelischen Steuerzahler. Wenige Monate nach der Behandlung seines Beins in Safed operierte man ihm im Krankenhaus in Naharia Splitter aus der Wunde im Nacken. Jetzt wird man ihm in Safed eine Platte aus dem Bein nehmen, die man ihm vor drei Jahren einsetzte.

Sanft rascheln die Blätter in den Obsthainen. Auf den Golanhöhen weht selbst im Sommer, wenn man in Tel Aviv bei 35 Grad und 70 Prozent Luftfeuchtigkeit schwitzt, ein kühler Wind. Doch der idyllische Anblick trügt: "Vierzig Jahre lang war der Golan Israels ruhigste Front", sagt Bassam Alian, stellvertretender Kommandant aller israelischen Armeeeinheiten auf der Hügelkette. Sorgsam inspiziert er von einer Anhöhe aus die Grenze mit einem Feldstecher. Seitdem das Regime auf der anderen Seite die Kontrolle verlor, stehen seine Truppen einem Sammelsurium syrischer Organisationen gegenüber.

Im Norden herrscht das Regime mithilfe der Hisbollah, weiter südlich autonome drusische Dörfer. Im zentralen Abschnitt ringen sunnitische Milizen um die Macht, im Süden radikale Islamisten. Immer wieder fliegen Kugeln oder Granaten auf die israelische Seite, mal absichtlich, mal aus Versehen. "Jeder Mann mit einer Waffe ist eine potenzielle Gefahr", sagt Alian. Dennoch eröffnen seine Männer nur selten das Feuer: "Wir wollen uns nicht einmischen. Außerdem würde ich gern mehr Menschen auf der anderen Seite helfen", sagt der Offizier.

Meist schleichen sich nämlich nicht Angreifer, sondern Verwundete wie Abu Muhammad zum Grenzzaun. Viele tun das angeblich "spontan, ohne jede Abstimmung", so Alian, und zwar an Stellen, die von der syrischen Seite nicht einsehbar sind – aus Angst vor dem Regime oder den Islamisten. Verwundete werden zuerst auf Waffen oder Sprengsätze untersucht: "Früher fand man im Krankenhaus Handgranaten oder Munition bei den Verletzten", erklärt Alian. Doch die meisten kommen scheinbar koordiniert über die Grenze. Mit wem und wie man das abspricht, darüber schweigen die Israelis sich aus: "Es könnte uns im syrischen Bürgerkrieg verwickeln", erklärt Alian.

Er sieht Jahrzehnte älter aus, als er ist

Dafür geben die Patienten im Siv-Krankenhaus Auskunft. "Am Anfang halfen uns Ärzte der Vereinten Nationen, nach Israel zu kommen", sagt Abu Abdu. Er stammt aus demselben Ort wie Abu Muhammad. Wie viele syrische Flüchtlinge sieht auch dieser 38 Jahre alte Mann Jahrzehnte älter aus, als er ist. Er wurde vor vier Jahren bei einem Verkehrsunfall verletzt: "In unserer Umgebung kann man wegen Heckenschützen nur nachts ohne Lichter fahren." Der Unfall ereignete sich, als er Lebensmittel für seine Familie besorgen wollte. Er wollte sich sofort in Israel behandeln lassen, weil der Weg nach Jordanien "viel gefährlicher ist." Er erhielt aber keine Genehmigung. Jetzt soll die Platte, die jordanische Ärzte ihm einsetzten, aus seinem Bein. Das Rote Kreuz habe ihn auf seine Bitte nach Israel gebracht: "Ich wartete ein halbes Jahr auf die Zustimmung der Israelis. Hier werden wir kostenlos behandelt. In Jordanien müsste ich dafür zahlen", sagt Abu Abdu.

Er habe "keine Angst, nach Israel zu kommen." Rund 30 Personen aus seinem Bekanntenkreis wurden in Israel zusammengeflickt: "Ich weiß, dass man uns hier gut behandelt." Abu Abdu diente wie jeder Syrer früher in der Armee, wo er lernte, Israel zu hassen. Seine Weltanschauung habe sich jedoch schnell geändert, "als das Regime begann, unser Dorf, unsere Schulen, Moscheen, Frauen und Kinder zu beschießen", sagt er. Israel war mal unser Feind, aber sie haben niemals auch nur eine einzige Kugel auf uns geschossen." Inzwischen flüchte sich "das ganze Dorf an die israelische Grenze, wenn wir beschossen werden". Alle Einwohner strebten inzwischen "Frieden mit Israel an".

Fares Issa betrachtet solche Aussagen allerdings skeptisch. Der arabische Sozialarbeiter ist im Siv-Krankenhaus für alle syrischen Patienten verantwortlich. Aus Sicherheitsgründen dürfen sie ihr Zimmer nicht verlassen. Im Sommer 2015 zerrte ein drusischer Mob einen syrischen Kriegsverletzten aus einem Armeekrankenwagen und lynchte ihn, weil er ihn für einen IS-Kämpfer hielt. Zwar werden alle in Israel behandelt – Kinder, Frauen, alte Männer. Doch die meisten Patienten sind sunnitische Männer im kampffähigen Alter – also wahrscheinlich Kämpfer der Rebellen, auch wenn man das in Israel nicht eingestehen will. Jetzt sind eine gelangweilte Polizistin und ein schlafender Soldat am Eingang des Krankenhauszimmers postiert, um die Syrer zu schützen.

Die häufigsten Bitten sind ein Radio – und ein Koran

Die haben kein Geld, keine Telefone, keinen Internetzugang, nur Fares. "Egal, ob sie Süßigkeiten wollen, etwas zum Anziehen, oder eine Zigarette – ich kümmere mich", sagt er. Die häufigste Bitte sei ein Radio und ein Koran: "Aber im Prinzip brauchen sie alles: Kleidung, Hygieneartikel. Deswegen bekommt jeder eine vorbereitete Tasche von mir." Das Geld dafür stammt aus Spenden der Bevölkerung. Die meisten Israelis reagieren herzlich auf die syrischen Patienten: "Als wir hier ein acht Jahre altes syrisches Mädchen behandelten, bekam sie so viele Geschenke, dass sie beim Rücktransport nicht alle in den Krankenwagen passten", erzählt Issa.

Trotzdem habe der Aufenthalt im Siv-Krankenhaus die Mutter der Kleinen nicht vom Hass kuriert. "Sie sagte immer, wir würden ihren Aufenthalt politisch missbrauchen", sagt Hanna Bickel, die Sprecherin des Krankenhauses. "Viele sagen mir bei der Entlassung, dass sie ihre Meinung nicht geändert haben", bestätigt Issa. "Sie lernen ihr ganzes Leben, uns zu hassen. Eine Woche bei uns ändert daran nichts", sagt er traurig. "Die Behandlung ist für viele nur ein Denkanstoß, nicht mehr. Aber wenn wir auch nur die Meinung von ein Prozent der Patienten ändern, haben wir mehr als unsere Pflicht erfüllt."

Quelle : welt.de

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