Das Land lässt den Moment des Innehaltens verstreichen. Stattdessen: Wut. Tausende Menschen hatten sich am Sonntagnachmittag vor der Kocatepe Moschee in der türkischen Hauptstadt Ankara versammelt - zum Gebet für die Opfer des Putschversuchs vom 15. Juli. Doch die Gläubigen waren nicht gekommen, um still zu trauern. Sie waren gekommen, um Rache zu fordern.
Die meisten Anhänger des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan teilen diese Haltung: Sie betrachten die Abwehr des Militärcoups nicht nur als Sieg der türkischen Demokratie, sondern als Ausdruck der eigenen Stärke, als Machtdemonstration. Eine junge Frau in Ankara spricht von einem "zweiten Unabhängigkeitskrieg". Für Zwischentöne, für Demut ist kein Platz mehr.
Warnung vor einer "Lynchstimmung"
Türkischen Oppositionellen machen diese martialischen Parolen Angst. Sie beobachten entsetzt, wie die Stimmung in dem Land immer aggressiver wird, manche warnen vor einer "Lynchstimmung".
Soldaten hatten in der Putschnacht vorübergehend Teile Istanbuls und Ankaras besetzt gehalten, sie schossen auf Zivilisten, auf Frauen, Kinder. Coup-Gegner massakrierten mindestens vier bereits entwaffnete Soldaten.
Die Gewalt hält auch jetzt, da der Coup abgewehrt ist, an. Ein Video zeigt, wie in Istanbul ein Mob auf eine Gruppe Ausländer losgeht. In Provinzstädten sollen nach Berichten türkischer Medien Schlägertrupps Jagd auf Menschen gemacht haben, die sie als Putsch-Sympathisanten verdächtigten.
In Ankara kamen am Sonntagabend auf dem Kizilay Platz im Stadtzentrum Tausende Menschen zu einer Kundgebung für die Regierung von Präsident Erdogan zusammen. Auch hier schwankte die Stimmung zwischen Freude und Aggression. Eine Band spielte Marschmusik. Die Demonstranten trugen türkische Fahnen. Sie hoben die Hand zum Gruß der Muslimbrüder, skandierten: "Gott ist groß." Und immer wieder: Die Forderung nach der Todesstrafe für die Putschisten.
Für einen Augenblick hatte es so ausgesehen, als könnte der gescheiterte Putsch die Menschen in der Türkei vereinen. Konservative, Linke, Kurden hatten sich gemeinsam gegen die Selbstermächtigung des Militärs zur Wehr gesetzt. Auch erbitterte Gegner standen an der Seite der Regierung Erdogan. Doch nun, nur wenige Tage nach dem Coup, brechen in der Türkei die alten Fronten schon wieder auf.
Erdogan selbst tut wenig, um die Lage zu beruhigen. Im Gegenteil: Er heizt den Konflikt weiter an. Der Präsident ruft die Menschen auf die Straßen und nutzt den Putschversuch, um nun unerbittlich gegen seine Kritiker vorzugehen. Fast 3000 Staatsanwälte und Richter wurden in den vergangenen Tagen festgenommen. Der Militärcoup sei abgewendet, sagt Selahattin Demirtas, Vorsitzender der prokurdischen Partei HDP.
Doch nun drohe dem Land ein "ziviler Coup" - durch den Präsidenten.
Quelle : spiegel.de
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