All das stapelt sich als Altpapier auf dem Asphalt von Blankenese. Bensels Witwe zieht aus dem Familienwohnsitz aus, die neuen Besitzer machen tabula rasa. Eine Studentin entdeckt die Zeichnungen zufällig beim Spazieren und bringt einen Teil dieser Blätter zum Denkmalschutzamt.
Erst jetzt, 40 Jahre später, hat der Kunsthistoriker Jan Lubitz sie aus den Archiven ausgegraben. Seine Monografie "Geformter Raum" weist allein für Hamburg mehrere Dutzend von Bensels Werken aus: weite Teile der Einkaufsmeile Mönckebergstraße etwa, das Warenhaus Karstadt, die St.-Franziskus-Kirche in Barmbek. "Trotzdem kennen ihn nicht mal die Kunsthistoriker", sagt Lubitz. Er vermutet: Die Hamburger Architektur der Moderne hat ein Imageproblem.
Der Höhepunkt von Bensels Karriere fällt eigentlich in eine Blütezeit des deutschen Wohnungsbaus: Nach dem ersten Weltkrieg herrscht Platzmangel. In den Hinterhöfen wüten Seuchen. In den Städten wuchern Wohnsilos für die Massen. In diesem Umfeld öffnet die Bauhaus-Bewegung ihre Werkstätten und macht die Not zur Tugend. Raus aus dem Elfenbeinturm der Kunst, zurück zum Handwerk: So will es ihr Manifest. Die Bauwerke sind bewusst schlicht und schmucklos. Noch heute findet man die Namen Mies van der Rohe und Walter Gropius in jedem Buch über die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Abseits des Mainstreams aber hat es die Baukunst schwer. "Heute verstehen manche Leute gar nicht, was an modernen Häusern überhaupt Kunst sein soll", sagt Lubitz.
Bensels Häuser sind streng durchgeplante, geometrische Quader aus Backstein und Beton. Kein Stein, kein Mauerstück ist ohne Sinn oder Zweck. Er sah sich als Künstler - aber eben als pragmatischer Künstler. 1878 in Iserlohn geboren, arbeitet er nach seiner Ausbildung an der Technischen Hochschule Charlottenburg zunächst als Regierungsbaumeister der Eisenbahndirektion Köln. Bensel plant Stationsbauten, vereinzelt Stadtwohnhäuser - eine gediegene Arbeit.
"Massiv konstruiert, wie Skelette"
Trotzdem entwickelt er bald seinen eigenen Stil. Bensel wird zu einem heute kaum beachteten Pionier des "Neuen Bauens": Lange vor Gropius konzentriert er sich auf kubische Strukturen und klare, glatte Flächen. Das verschafft ihm zahlreiche Aufträge in Hamburg: etwa für das Rolandshaus oder das Südseehaus, beides prächtige Handelshäuser in der Mönckebergstraße. In der Hansestadt gründet er sein eigenes Architektenbüro. Unter dem Namen Bensel, Kamps und Amsinck entstehen Wohnanlagen in Barmbek, ein Kindererholungsheim. Es sind zeitlose Kunstwerke.
"Massiv konstruiert wie Skelette", sagt Lubitz. Das Levantehaus in der Hamburger Innenstadt überlebte sogar den Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs. Die Baustrukturen setzen sich bis jetzt in den Räumen im Inneren fort. In den ehemaligen Büros schlafen heute Hotelgäste. Im Erdgeschoss flanieren täglich Besucher durch Parfümerien und Schmuckmanufakturen. "Kaum jemand sieht aber den historischen Wert dieser Gebäude", sagt Lubitz.
In der "Freien und Abrissstadt" noch dazu: Die Abrissfreude der Hamburger ist schon sprichwörtlich. Der neugotische Bau von St. Nikolai und die Fachwerkhäuser im Gängeviertel überlebten sie nicht. Selbst die Unesco-gekrönten Gründerzeitfassaden in der Speicherstadt entstanden auf den zertrümmerten Mauern eines barocken Stadtquartiers. So fielen bis in die Siebzigerjahre auch aus der Zwischenkriegszeit einige Häuser der Abbruchbirne zum Opfer. Vom Klöpperhaus in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs blieben nur die Außenmauern. Auch Bensels Kindererholungsheim in der Nähe von Soest musste weichen.
Lubitz glaubt, dass Hamburgs moderne Architekturszene darum viel besser dokumentiert werden müsste. "Anfangs wusste ich nicht mal, was Carl Bensel überhaupt gebaut hat", sagt er. Keine persönlichen Notizen, keine Briefe. Die wenigen verbliebenen Dokumente sind mühsam zu beschaffen, verstreut über Archive und Bibliotheken. Die meisten Hamburger kennen deshalb bis heute allenfalls Hamburgs einstigen Stadtplaner Fritz Schumacher. "Dabei gehörte Hamburg in den Zwanzigerjahren zu den wichtigsten Kulturmetropolen Deutschlands.", sagt Lubitz.
Bensels Familienwohnsitz in Blankenese ist heute in Privatbesitz. Immerhin: Das Haus steht unter Denkmalschutz. So wie rund 50 andere Gebäude aus Bensels Architekturbüro in Hamburg.
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