Italien ist auf dem Weg zum “failed state“

  22 Juli 2016    Gelesen: 455
Italien ist auf dem Weg zum “failed state“
Bislang haben sich die Italiener durch jede Krise gemogelt. Doch diesmal wird es eng. Eine lahme Wirtschaft und kranke Banken bedrohen das Land – und ein Blick in die Statistik beunruhigt noch mehr.

Wolfgang Schäuble wiegelt ab. "Wir haben über die Situation der Banken in Italien gesprochen", sagt der Bundesfinanzminister und schaut dabei wie zur Bestätigung zu seinem Amtskollegen aus den USA, Jack Lew. Die Kameras der Fotografen klicken. Man müsse zunächst einmal die Ergebnisse der Stresstests abwarten, fügt er dann noch hinzu. Sollte es wirklich Probleme geben, würden diese im Rahmen der europäischen Regelungen gelöst. "Ich finde, dass viel zu viel darüber diskutiert wird", schiebt Schäuble scheinbar gelassen hinterher. Der Amerikaner an seiner Seite nickt.

Dass der Finanzminister auch anders kann, ist bekannt. Das bekamen die Portugiesen wenige Tage zuvor zu spüren. In geharnischten Worten warf er der Regierung in Lissabon vor, sich nicht an die europäischen Fiskalregeln zu halten. Die Griechen wollte er im vergangenen Jahr sogar aus der Euro-Zone treiben. Bei den Italienern aber gibt Wolfgang Schäuble seit Wochen den verständigen Diplomaten.

Der mächtigste Finanzminister der Euro-Zone misst mit zweierlei Maß, weil er ahnt, dass er das große Italien nicht wie Portugal oder Griechenland durch öffentliche Demütigung zum Kurswechsel zwingen kann. Und weil jede weitere Debatte über das Ausmaß der Krise das Land erst recht beschädigen könnte. Kippt Italien, dann kippt das europäische Projekt. Erst recht nach dem Brexit-Votum der Briten.

Seit vielen Jahren ist Italien ein europäisches Menetekel: eine liebenswerte Reiseregion zwar, aber eine, die beim Blick in die volkswirtschaftlichen Bilanzen Abgründe offenbart. Italien, das ist der kranke Mann Europas, geschlagen mit ständig wechselnden Regierungen, die zu Reformen nicht fähig sind. Ein regionales Gebilde, bei dem Nord und Süd nicht recht zueinanderpassen wollen und dessen Süden ganz besonders unter der organisierten Kriminalität leidet. Italien, das ist für viele Beobachter ein Land auf dem Weg zum "failed state" der Euro-Zone. Einerseits.

Italien steht an einem Abgrund

Und auf der anderen Seite doch auch ein Land, das sich bislang noch durch jede Krise gemogelt hat. Die Deutschen hätte so viel Chaos im Politikbetrieb vermutlich längst in den Wahnsinn getrieben. Doch die Italiener haben gelernt, sich mit den Unzulänglichkeiten zu arrangieren – und sind darüber hinaus zum Erstaunen des restlichen Europas zu den Wohlhabenderen des Kontinents aufgestiegen. Bislang jedenfalls. Denn Italien steht an einem Abgrund, der möglicherweise tiefer ist als je zuvor in seiner Geschichte seit Ende des Zweiten Weltkrieges.

Wer wissen will, wie schlimm die Lage ist, muss den jüngsten Italien-Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF) lesen. Von "monumentalen Herausforderungen" ist da die Rede. Davon, dass das Land erst in knapp einem Jahrzehnt wieder jene Wirtschaftsleistung erreichen dürfte, die es vor Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 hatte.

Schleichende Immobilienkrise

Die größte Gefahr aber geht vom maroden Bankensystem aus. 360 Milliarden Euro an faulen Krediten schlummern angeblich in den Bilanzen. Der italienischen Notenbank zufolge entspricht das rund 18 Prozent der gesamten Kredite. Zwar verweisen italienische Offizielle darauf, dass viele Kredite mit Sicherheiten wie Immobilien hinterlegt sind. Das Problem ist nur, dass das Land längst in einer schleichenden Immobilienkrise steckt.

Die Preise sind nicht so abrupt abgestürzt, wie das in Spanien oder Irland der Fall war. Doch der langsame Wertverfall vernichtet Jahr um Jahr ein Vermögen in dreistelliger Milliardenhöhe. Allein seit 2010 ging es 15 Prozent nach unten. Damit erodieren auch die Sicherheiten. Deshalb gehen Immobilienkrisen meist Hand in Hand mit Bankenkrisen.

Die Probleme sind so riesig, dass sie ein Land in dieser schwierigen wirtschaftlichen und auch politischen Gemengelage kaum allein meistern kann – und wenn, dann nur unter Umgehung der neuen europäischen Rettungsrichtlinien.

Was weit weg zu sein scheint von den Sorgen normaler Leute, hat den Alltag der Italiener längst erreicht. "So hat es keinen Sinn mehr zu leben", schreibt Salvatore De Francesco am 8. Juli in einem Brief an seine Frau und seine beiden kleinen Kinder. Dann stürzt er sich aus dem Fenster in seinem Heimatort Marcianise nördlich von Neapel. 43 Jahre ist er zu diesem Zeitpunkt alt. Im wirtschaftlich kranken Süden Italiens hat er keine Hoffnung mehr auf eine Stelle. Nicht einmal mehr auf einen Aushilfsjob. Seit 2008 haben in dieser Region knapp 8000 Firmen dichtgemacht. Für Menschen wie De Francesco gibt es dort keine Chance.

Zehn Jahre Stagnation, drei Jahre Rezession

Suizide sind in Italien ein Gradmesser für die Krise geworden. Seit 2006 steigt deren Zahl kontinuierlich an. Laut der Industrieländerorganisation OECD kamen im Jahr 2012 auf 100.000 Einwohner 6,3 Selbstmorde. Vor allem Jobverlust oder der Untergang der eigenen Firma treibt die Menschen in den Suizid. Aber auch kleine Sparer, die plötzlich vor dem Nichts stehen, wissen oft keinen anderen Ausweg mehr. So wie jener Rentner aus Norditalien, der sich im Juni das Leben nahm und dessen Schicksal die Nation bewegte. Der Ruheständler hatte seine gesamten Ersparnisse beim Niedergang der Banca Popolare di Vicenza verloren.

Bedauerliche Einzelfälle? Zehn Jahre Stagnation und drei Jahre Rezession haben Italiens Wohlstand, Ersparnisse, Arbeitsplätze und Wirtschaftskraft ruiniert. Das marode Bankensystem, das der IWF als Hauptproblem ansieht, ist doch nur die Endstation einer Strukturkrise der italienischen Wirtschaft. Die über Jahrzehnte gewachsenen Missstände sind so groß, dass die wenigen Reformbemühungen der Regierung in Rom nicht ausreichen.

Mit der Krise seit 2008 haben viele der Probleme nur mittelbar zu tun, mit der Brexit-Entscheidung der Briten, die Italiens Finanzminister Pier Carlo Padoan nun ins Feld führt, noch viel weniger. Sie verstärken die Symptome, doch die wahren Probleme bestehen schon viel länger: Korruption, Mafia, Schattenwirtschaft, Steuerhinterziehung, ein ausuferndes Wohlfahrts- und Subventionswesen, eine unwillige Bürokratie. Nepotismus.

"Bald müssen wir die ganze Gemeinde schließen"

Gerade erst sorgt ein Fall in der Gemeinde Boscotrecase europaweit für Aufsehen: Ein Mitarbeiter des Rathauses wurde gefilmt, als er seine Karte durch die Stechuhr zog. Danach ging er wieder nach Hause. Um von den Überwachungskameras nicht identifiziert zu werden, hatte sich der Mann einen Pappkarton über den Kopf gestülpt. Mittlerweile hat die Polizei angeblich 23 von 60 Mitarbeitern der Stadtverwaltung festgenommen. In 200 Einzelfällen wird ermittelt. Bürgermeister Pietro Carotenuto klagt: "Wir laufen Gefahr, bald die ganze Gemeinde schließen zu müssen."

Vermeintlich lustige Anekdoten, die für den Zerfall eines für die EU wichtigen Staates stehen. In Italien gibt es sie schon immer. Nur war die Lage des Landes nie so schwierig wie jetzt. So haben viele private Sparer ihr Geld wegen der niedrigen Zinsen auf dem Sparkonto in Bankanleihen umgewandelt. Das ist eine Besonderheit Italiens. Mehr als 200 Milliarden Euro haben Anleger ihren Banken auf diese Art anvertraut.

Das könnte nun fatale Auswirkungen haben. Denn die neue europäische Richtlinie zur Abwicklung maroder Banken sieht vor, dass die Gläubiger mit ihren Einlagen an der Sanierung wackeliger Geldhäuser beteiligt werden. In Zypern haben die Europäer demonstriert, wie das funktioniert. Wer mehr als 100.000 Euro auf dem Konto hatte, wurde rasiert.

Bei strenger Auslegung der Regeln wäre ein großer Teil des Geldes auch in Italien weg. Mindestens 31 Milliarden Euro privater Sparer-Euro stehen auf dem Spiel, schätzt der IWF. Allein die Problembank Monte dei Paschi hat mehr als fünf Milliarden Euro an solchen Nachrangdarlehen ausgegeben und das Gros davon bei privaten Kunden platziert. Für die Menschen, deren Alterssicherung darauf basiert, ist das ein Albtraum.

Scheitert Matteo Renzi, dann drohen Neuwahlen

Für Rom bedeutet das Chaos. Denn die Einhaltung der Regeln und deren Folgen könnte das Ende der Regierung von Premier Matteo Renzi besiegeln. Dieser hat für Oktober ein Verfassungsreferendum angesetzt und sein politisches Schicksal damit verknüpft. Zwar geht es in dem Votum nur darum, die Macht des Senats zu beschneiden. Die Italiener könnten das Referendum aber nutzen, um Renzi einen Denkzettel zu verpassen – zum Beispiel für eine aus ihrer Sicht vermasselte Bankenrettung. "Das Referendum ist ein entscheidender Moment für die Geschichte des Landes, ja sogar die Geschichte Europas", sagt Gilles Moec, Europa-Chefökonom bei der Bank of America. Scheitert Renzi, drohen Neuwahlen. Dann könnte die Euro-feindliche Fünf-Sterne-Bewegung an die Macht kommen.

Viele Italiener machen den Euro für ihre wirtschaftliche Misere verantwortlich. Vor der Euro-Einführung gelang es italienischen Regierungen über Jahrzehnte hinweg, durch alle wirtschaftlichen Fährnisse zu navigieren. Wenn der Wettbewerbsdruck der Konkurrenznationen zu stark wurde, werteten die Italiener die Lira ab. In der Folge büßte die italienische Währung zur D-Mark zwischen 1971 und dem Euro-Start mehr als 80 Prozent an Wert ein.

Was für Deutsche nach Untergang klingt, funktionierte für die Italiener dennoch erstaunlich gut. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf als Gradmesser für den Wohlstand eines Landes konnte in Dollar umgerechnet mit der Entwicklung in Deutschland ganz gut mithalten. Erst mit der Euro-Einführung kippte das Modell. Seitdem steckt das Land in der Dauerstagnation. Die Folgen sind bitter: Pro Kopf beträgt die Wohlstandslücke zu den Deutschen inzwischen 12.000 Dollar im Jahr.

Volkswirte sorgen sich ernsthaft um die Lage in Italien

Dabei zeigen die offiziellen Zahlen wohl noch nicht mal das wahre Ausmaß der Malaise. In den vergangenen Jahren wurde ein Teil der Schattenwirtschaft in die reguläre Statistik verschoben. Ohne diesen künstlichen Zuwachs stünde das Land heute noch schwächer da.

Renzi hat die Probleme verstanden. Er hat versucht zu reformieren. Aus deutscher Sicht vielleicht zu zögerlich. Aber er hat es versucht. Italien brauche Zeit für seine Reformen, die eben erst in zwei bis drei Jahren wirken würden, sagt Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank.

Vorausgesetzt, die politische Entwicklung gibt Renzi so viel Zeit. Jörg Krämer von der Commerzbank hält Italien für das schwächste Glied in der Kette der großen Euro-Länder. "Der hohe Stand an faulen Krediten war bekannt, aber jetzt wird die Lage akut", fürchtet er. Krämer fordert die harte Anwendung der Sanierungsregeln für die Banken. "Wir müssen Abschied davon nehmen, dass es eine Kuschelwelt gibt, in der Bank-Investoren keine Verluste erleiden können."

Genau das ist der Knackpunkt – nicht nur für Renzi, sondern auch für einige andere europäische Länder. Denn italienische Bank-Anleihen halten eben nicht nur italienische Kleinsparer, sondern auch große europäische Kreditinstitute und Versicherungen. Auch in Deutschland. "Es sind nicht die kleinen Anleger, die durch die Bankenkrise Geld verlieren könnten", sagt Sven Giegold, Finanzexperte der Grünen im Europaparlament. Die EU habe längst angeboten, die Verluste der Sparer zu ersetzen.

Verlieren würden vielmehr die großen Anleger. "Die Rufe von Deutscher Bank und Blackrock nach einer neuen Bankenrettung auf Steuerzahlerkosten sind ein billiger Versuch, sich selbst Kosten zu ersparen." Giegold nimmt dabei unter anderem Bezug auf den Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau. Der hatte vergangene Woche in der "Welt am Sonntag" eine neue europäische Bankenrettung im Volumen von bis zu 150 Milliarden Euro gefordert – ohne Beteiligung der privaten Gläubiger. Immerhin hat die Deutsche Bank in Italien insgesamt rund 13 Milliarden Euro im Feuer.

Totschweigen, solange es geht

Folkerts-Landau hat mit seinem Vorschlag nicht nur die Grünen verärgert. Auch in der Bundesregierung stößt seine Forderung auf Unverständnis. Von einer "unguided missile" ist da die Rede – von einer nicht mehr steuerbaren Rakete. Folkerts-Landau müsse aufpassen, dass er mit seinen Forderungen nicht die Verunsicherung über die Stabilität des europäischen Bankensektors zusätzlich schüre.

Ohnehin scheint die Deutsche Bank das rote Tuch zu sein, mit dem Renzi immer dann wedelt, wenn die schwierige Lage seiner Banken zur Sprache kommt. "Wir haben unsere Banken mit den vielen faulen Krediten, Deutschland die Deutsche Bank mit ihrem riesigen Derivate-Buch`, sagt Renzi immer", erzählt ein Brüsseler Finanzfachmann. Es ist nicht so, dass man diesen Warnhinweis Renzis in Berlin einfach ignorieren könnte. Umso größer ist der Ärger über die Einwürfe aus Frankfurt.

Am liebsten würde man in Berlin und bei der Europäischen Zentralbank in Frankfurt das Thema totschweigen, so lange es geht. Ende des Monats veröffentlicht die EZB ihren neuesten Stresstest zu den europäischen Banken. Läuft alles nach Plan, haben die Italiener bis dahin eine Lösung für ihre Probleme. Die Regierung in Rom plant derzeit wohl einen zweiten Bankenrettungsfonds.

Der Name: Giasone. In den Topf sollen fünf bis sechs Milliarden Euro eingelegt werden, um italienischen Banken zu helfen, ihre faulen Kredite loszuwerden. Nur wird das nicht reichen. Angeblich verhandeln Vertreter des Landes daher auch schon mit der EU über eine Lösung, die eine flexible Anwendung der Sanierungsregeln erlaubt.

In Berlin hofft man das jedenfalls. "Sie werden von uns nichts Negatives über Italien hören", heißt es in Regierungskreisen. Die Italiener hätten schon viel getan. Renzi sei ein guter Ministerpräsident. Und das soll er aus Berliner Sicht ja auch bleiben.

Quelle: welt.de

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