Ein Amokläufer, 18 Jahre alt, erschoss am Freitag in München neun Menschen. Der Fokus der internationalen Presse richtet sich auf Angela Merkel. Ihr langes Warten, bevor sie sich äußerte, wurde registriert. Eine Zeitung in den Niederlanden meint, Merkel müsse jetzt Maßnahmen ergreifen. Der deutsche Wähler sei mit seiner Geduld am Ende, sagt ein Kommentator in Tschechien.
"De Standaard", Belgien: "Merkels Schweigen blieb nicht unbemerkt"
"Das lange Schweigen der Bundeskanzlerin blieb in den sozialen Medien nicht unbemerkt. Wir sind längst daran gewöhnt, dass Staatsoberhäupter und Regierungschefs unmittelbar auf solche dramatischen Geschehnisse reagieren. Ihre Reaktion ist dazu bestimmt, das Volk zu beruhigen, zu trösten, zu unterstützen. (...) Doch rasch öffentlich zu reagieren – auf was auch immer – ist nicht Merkels Stil.
Die Bundeskanzlerin ist dafür bekannt, dass sie sich erst zu etwas äußert, wenn sie alle Fakten beisammen hat. Erst dann reagiert sie und zeigt gegebenenfalls auch ihre Emotionen. Deshalb hat sie Freitagabend zunächst noch geschwiegen. Und zwar zu Recht. Zu der Zeit war noch völlig unklar, was da gerade geschah. Ging es um nur einem Täter? Oder waren es drei? Was waren die Motive? War es ein terroristischer Anschlag oder der Amoklauf eines Einzelgängers? Erst nach Mitternacht hatte die Polizei Entwarnung geben können."
"Corriere della Sera", Italien: Alptraum der Attentate in Deutschland
"Der Alptraum, in den Deutschland gestürzt ist, scheint in diesen Stunden kein Ende mehr zu nehmen. An einem Tag, an dem die Nachrichten noch voll waren mit dem Schmerz über das Massaker von München und der Bestürzung über die Attacke in einem Zug vor gut einer Woche, haben zwei weitere Attacken die Nerven des Landes angegriffen. Deutschland ist aufgerieben von einer unerwarteten Anspannung, die nicht weniger zu werden scheint."
"De Volkskrant", Niederlande: Merkel muss Maßnahmen gegen Gewalt ergreifen
"Die Ruhe und die abwartende Distanz von Merkel sollen zum Teil eine Deeskalationstaktik sein, geboren aus dem Gedanken, dass man einem möglichen Terroristen nicht geben muss, was er haben will: Aufmerksamkeit. Zudem ist das "typisch deutsch". Hin und her überlegen, was die passende Reaktion wäre – darin zeigt sich die Angst vor Fehlern, von der die deutsche Gesellschaft so tief durchdrungen ist. (...)
Die kommenden Wochen dürften im Zeichen der Debatte über geeignete Abwehrmaßnahmen (gegen Gewalt und Terroranschläge) stehen. Vor allem CSU-Politiker sind für den Einsatz der Armee auf der Straße, ähnlich wie in Frankreich. Merkels Regierung ist noch dagegen. Aber wie weiter? Auch wenn die jüngste Gewalt (in München und Reutlingen) nicht als Terrorismus eingestuft wird, wäre es für Merkel politisch gefährlich, keine Maßnahmen zu ergreifen."
"Der Standard", Österreich: Fragen zur Reaktion sind berechtigt
"Zuerst war das Chaos, dann kamen die üblichen Reaktionen: Verschärfung des Waffenrechts, mehr Mittel für die Polizei, Einsatz von Soldaten. Erstaunlicherweise wurde nicht der Ruf nach mehr Psychologen laut. Nach den Ereignissen von München an diesem Wochenende begann gleich mit Verve die Debatte über Fehler der Polizei: Wurde nicht überreagiert, als man den ganzen öffentlichen Nahverkehr und Autobahnen gesperrt hat? Wurde nicht dadurch erst recht Panik ausgelöst?
Wer kommt für den Schaden auf, der entstanden ist, weil eine Metropole stundenlang lahmgelegt wurde? Hätte es ohne Facebook und Twitter diese Aufregung überhaupt gegeben? Warum transportieren Medien diese Meldungen weiter? Diese Fragen und Debatten sind berechtigt, es geht um das Verhalten in Extremsituationen, die plötzlich alltäglich geworden sind, wie die vergangenen zehn Tage zeigen: Nizza, Türkei, Baton Rouge, Würzburg, München, Reutlingen, Ansbach – ein Putsch in der Türkei, ansonsten Anschläge, Attentate, Amokläufe."
"Lidove noviny", Tschechien: Deutsche Wähler mit Geduld am Ende
"Die Politiker führen immer wieder dieselben Argumente ins Feld: Erstens könne es keine absolute Sicherheit geben. Zweitens brauche man Geduld. Das sind rationale, logische und berechtigte Argumente.
Doch sie konnten nur überzeugen, solange sich solche mörderischen Angriffe einmal alle paar Jahre ereigneten. Welche Wirkung haben sie noch in einer Zeit, in der wir jede Woche neue Schreckensnachrichten erhalten? Gerade diejenigen, die vor den angeblichen Rechtspopulisten warnen, sollten ahnen, dass diesen nichts mehr Wähler zutreibt als der obligatorische Aufruf zu Geduld und Besonnenheit nach jedem Anschlag."
"Hospodarske noviny", Tschechien: Zeichen einer sozialen Pathologie der Moderne
"Das Schicksal des psychisch entgleisten Attentäters aus München, der dem Wahn des Massentötens verfallen war, aber auch andere Fälle von Gewalttaten durch sehr junge Menschen bis zu einem Alter von 30 Jahren deuten auf innere Beweggründe hin.
Sie sind Zeichen einer sozialen Pathologie, die von der modernen Gesellschaft hervorgebracht wird – und nicht immer und zuallererst durch äußere Feinde. Die Details sind jedes Mal anders, aber grundsätzlich scheint es sich um eine Krankheit der Gesellschaft zu handeln, die sich selbst hartnäckig als gesund ansieht."
"Nepszava", Ungarn: Orban-Regierung nutzt München für Propaganda-Zwecke
"Berichten zufolge war unter den Opfern auch ein ungarischer Jugendlicher, genauer: ein Junge, der seit zehn Jahren in Deutschland lebte, dort zur Schule ging und Doppelstaatsbürger war. Ungarns Außenminister Peter Szijjarto meinte, dass wir, nachdem der Terrorismus nun sogar ein ungarisches Opfer gefordert habe, an einem Markstein angekommen seien. Was für ein Markstein das sein soll, wissen wir nicht, denn auch bei den Anschlägen in Niza, Paris und Brüssel oder sogar beim 11. September 2001 hätte es ungarische Opfer geben können. (...)
Dabei hatte München nichts mit der Einwanderung zu tun. Die ungarische Regierung ignoriert das aber. Der ungarische Außenminister hat – auf Anweisung Orbans – die Tragödie von München mitsamt dem ungarischen Opfer dazu missbraucht, Reklame für die Volksabstimmung (am 2. Oktober über die Ablehnung der EU-Flüchtlingsverteilungsquoten) zu machen."
"Sme", Slowakei: Hassparolen im Internet sind gefährlicher als Islamismus
"Wir können nicht die Augen vor der Wahrheit verschließen, dass der Zustrom von Flüchtlingen auch das Sicherheitsrisiko erhöht. Und dass der radikale Islamismus gefährlich ist – wie jede Form von Fanatismus und Fundamentalismus. Ebenso ist aber auch wahr, dass die letzten beiden Angriffe (Nizza und München) das Werk übergeschnappter Einzelner waren, in denen gerade die gegenwärtige, über das Internet aufgepeitschte Atmosphäre das Bedürfnis zu töten hervorgerufen haben könnte."
"Diena", Lettland: Wie kam der Münchner Amokläufer an seine Waffe?
"Das Argument lautet, dass der 18 Jahre alte Schütze ein Einzeltäter war und nicht einer Terrororganisation angehörte. Beschrieben wird er als "psychisch labil", ein gegenüber seinen Gleichaltrigen Groll hegender Außenseiter, der psychologische Hilfe benötigt hatte. Ganz spontan möchte man sagen: Gott sei Dank, dass er nur psychisch krank war, und dass es nicht ein weiterer organisierter Akt zur Einschüchterung des Westen war. Doch wie können eine für Militärzwecke hergestellte Glock-17-Pistole und 300 Patronen in seine Hände gelangen?!
Dies ist nicht Amerika, wo fast jeder die Möglichkeit hat, daran zu kommen – Deutschland ist bekannt für einige der strengsten Vorschriften für den Erwerb und Besitz von Waffen. Diese Tatsache allein lässt vermuten, dass es einen interessierten "Helfer" gab, der die emotionale Stimmung des jungen Menschen kannte."
"The Guardian", Großbritannien: Regierungen müssen die Nerven bewahren
"Die Bedrohung wird überall empfunden, und teils zu Recht. Millionen von Menschen in Europa, darunter auch in Großbritannien, betrachten eine Schießerei in einem Einkaufszentrum, eine plötzliche Attacke in einem Zug oder einen mörderischen Anschlag mit einem Lastwagen und stellen sich vor, dass dies auch in ihren Gemeinden geschieht. Deshalb müssen Regierungen – während sie die Gefahren nüchtern analysieren – die notwendigen präventiven Maßnahmen treffen.
Aber für dieselben Millionen von Menschen sind auch allzu leicht Gegenreaktionen vorstellbar, die sich gegen Ausländer und Migranten richten. Europas populistische und migrationsfeindliche "Law and Order"-Parteien erstarken bereits im Zuge der wirtschaftlichen Stagnation. Willkürliche Gewaltakte schüren die Ängste. Doch Regierungen müssen – genau wie wir alle – die Nerven bewahren und dürfen eine ohnehin schon schlechte Situation nicht noch schlimmer machen."
"NZZ", Schweiz: Globalisierung wird immer anspruchsvolle
"Amokläufe hat es stets gegeben; es ist nicht einmal sicher, ob ihre Häufigkeit jüngst signifikant zugenommen hat. Denkbar wäre es. Die Globalisierung wird immer anspruchsvoller, die Angst, abgehängt zu werden, greift selbst im Mittelstand um sich. Die auf Computern, Spielkonsolen und Smartphones omnipräsenten virtuellen Welten von Spielen und sozialen Netzwerken könnten den Sinn für Realität und Fiktion durcheinanderbringen. Seit einigen Jahren bietet zudem die Gewaltideologie des Dschihadismus eine leicht verfügbare Oberfläche, auf der Propaganda, Selbstüberschätzung und Wahn die eigene Selbstaufgabe zur Heldentat des Terroranschlags umdeuten können.
Trotzdem bleibt das Risiko, in Europa Opfer eines Amokläufers oder eines Terroristen zu werden, extrem gering. Es ist richtig, wenn sich Experten Gedanken darüber machen, wie das Risiko weiter reduziert werden könnte. Auch die Medien dürfen durchaus einmal kritisch darüber nachdenken, wie und was genau sie über solche Gewaltausbrüche berichten sollten."
Quelle:n24.de
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