So gefährlich ist Veganismus in der Schwangerschaft

  27 Juli 2016    Gelesen: 917
So gefährlich ist Veganismus in der Schwangerschaft
Viele Deutsche leben vegan. Doch wenn schwangere Frauen auf Fleisch, Milch und Eier verzichten, kann das womöglich dem Nachwuchs schaden. Muss eine verpflichtende Ernährungsberatung her?
Fünf Kilo wog das Kind, als seine Großeltern es ins Mailänder Krankenhaus brachten. So viel, wie ein drei Monate altes Baby normalerweise auf die Waage bringt. Doch der Junge war 14 Monate alt. Er war viel zu leicht, lebensbedrohlich krank. Das Kind hatte schwere Herzprobleme, ihm fehlten Eisen und Kalzium im Blut.

Die Ärzte untersuchten es und fanden die Ursache: Der Junge hatte immer nur Obst und Gemüse bekommen, keine zusätzlichen Nahrungsergänzungsmittel. Die Ärzte waren erstaunt, dass er noch lebte.

Zwei Wochen ist es her, dass dieser Fall in Italien für Aufregung sorgte. Gefährden vegan lebende Schwangere das Wohl ihres Kindes? Politiker und Ärzte sind unsicher. Nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland ist die vegane Ernährung ebenso beliebt wie umstritten.

Klar ist: Wer kein Fleisch isst, muss darauf achten, genügend Vitamin B12, Calcium und andere Nährstoffe zu sich zu nehmen. Doch einige Veganerinnen lehnen Nahrungsergänzungsstoffe ab. Ob eine vegane Ernährung gesund oder ungesund ist, wurde wissenschaftlich bislang nicht abschließend geklärt, die Studienlage ist ziemlich schlecht.

Ernährungsberatung für Schwangere

Gitta Connemann ist in der CDU-Fraktion für Ernährungsthemen zuständig. Grundsätzlich hat die Abgeordnete im Bundestag nichts dagegen, wenn Menschen sich rein pflanzlich ernähren.

Aber wenn Kinder im Spiel seien, sei Vorsicht geboten. Deshalb diskutierte sie kürzlich mit Medizinern. Einige Ärzte sind alarmiert, weil viele Veganerinnen während der Schwangerschaft an ihrem Ernährungsstil festhalten – und zwar ohne sich bewusst zu sein, dass sie damit ihr ungeborenes Baby gefährden könnten. Connemann will nun eine Debatte über eine verpflichtende Ernährungsberatung für Schwangere anstoßen.

In Deutschland verzichtet Schätzungen zufolge eine Million Menschen darauf, Fleisch, Eier und Milch zu essen. Genaue Zahlen gibt es nicht. Gerade junge Frauen entscheiden sich oft aus ethischen, ökologischen oder gesundheitlichen Gründen für eine vegane Ernährung.

Werden diese Frauen schwanger, ist das ungeborene Kind gefährdet, sagen Kinderärzte. Wird es nicht ausreichend mit Nährstoffen versorgt, können sich Gehirn und Nervensystem nicht richtig entwickeln. Dauerhafte, schwere Schäden sind dann möglich.

Deshalb schlägt Connemann vor, dass Ärzte, Hebammen oder Ökotrophologen im Rahmen der normalen Vorsorgeuntersuchungen eine verpflichtende Ernährungsberatung durchführen. "Werdende Eltern wollen das Beste für ihr Kind", sagt Connemann, "sie wissen aber oft nicht alles über die Risiken einer Mangelversorgung." Es gehe ihr dabei nicht nur um Veganer. "Eine einseitige Ernährung birgt immer die Gefahr von Mängeln."

Vitamin B12 stellt der Körper nicht selbst her

Ärzte unterstützen ihr Anliegen. Allerdings ist ihnen genauso wie dem Bundesinstitut für Risikobewertung klar, dass es bislang nur sehr wenige wissenschaftliche Studien darüber gibt, was genau passiert, wenn eine Mutter sich während der Schwangerschaft rein pflanzlich ernährt.

Italienische Forscher um Giorgina Piccoli von der Universität in Turin haben 262 wissenschaftliche Studien zum Thema "Vegane Ernährung in der Schwangerschaft" ausgewertet. Sie fanden heraus, dass die wenigen Erkenntnisse, die es gibt, sehr unterschiedlich sind. Eine rein pflanzliche Ernährung sei aber unbedenklich, wenn Schwangere die wichtigen Nährstoffe zusätzlich einnähmen.

Fehlen bestimmte Stoffe, kann es zu schweren körperlichen und psychischen Einschränkungen kommen. Ein Vitamin-B12-Mangel ist für Veganer beispielsweise ein Problem.

Dieses Vitamin kann der menschliche Körper nicht herstellen, es ist aber essenziell für die Blutbildung und für das Nervensystem. Wer Fleisch, Milch und Eier isst, nimmt eine Vorstufe des Vitamins B12 auf. Im Verdauungstrakt wird es dann zum nutzbaren Vitamin verstoffwechselt.

Babys nehmen das Vitamin über die Muttermilch auf – allerdings nur, wenn die Mutter genügend B12 im Körper gespeichert hat. Ernährt sich eine Frau über einen längeren Zeitraum hinweg vegan, verbraucht sie ihre Vorräte. Sie sollte deshalb Vitamin-B12-Tabletten einnehmen oder speziell angereicherte Zahnpasta verwenden. Das Problem: Ob der Körper genügend Vitamin B12 für Mutter und Kind gespeichert hat, kann nur durch regelmäßige Blutuntersuchungen bestimmt werden.

Respektlos gegenüber dem Kind

Auch andere Mängel können bei veganer Ernährung auftreten. Langkettige Fettsäuren, Vitamin D und Mineralstoffe wie Calcium und Jod müssen ebenfalls in der richtigen Konzentration im Blut sein.

Der Kinderarzt Hermann Josef Kahl betont, dass Schwangere zudem ausreichend Proteine für die Energiezufuhr aufnehmen müssen. Kahl hat eine Praxis in Düsseldorf und ist Sprecher des Verbandes der Kinder- und Jugendärzte. "Man benötigt eine umfassende Ernährungsberatung, wenn man als Veganerin ein Baby bekommen möchte", sagt er.

Der Verband rät zudem strikt davon ab, Minderjährige vegan zu ernähren. "Es ist eine Respektlosigkeit den Kindern gegenüber, ihnen die Nährstoffe zu verwehren, die sie für die Entwicklung brauchen", sagt Kahl. Bei ungeborenen Babys sei eine rein pflanzliche Ernährung geradezu fahrlässig. "Mindestens einmal pro Woche sollten schwangere oder stillende Frauen Fleisch essen."

Tabletten gegen Mangelerscheinungen

Mareike kennt diese Vorwürfe – aus eigener Erfahrung. Die 27-Jährige lebt seit zwei Jahren vegan, als sie erfährt, dass sie in anderen Umständen ist. Über ihre Erfahrungen schreibt sie auf dem Blog "Vegan-News". Mareike ernährt sich rein pflanzlich, aus Respekt vor den Tieren und der Umwelt.

Schon als Kind war sie Vegetarierin, nie hat sie darüber nachgedacht, dass ihr Lebensstil problematisch werden könnte. Doch als sie ihrer Gynäkologin erzählt, dass sie vegan lebt und daran auch während der Schwangerschaft festhalten wolle, ist die Ärztin entsetzt, schreibt Mareike.

Nach "einer langen Predigt" darüber, dass sie ihr Baby bewusst dem Risiko einer massiven Fehlbildung aussetze, versieht die Ärztin Mareikes Akte mit dem Vermerk: VEGANE ERNÄHRUNG – in Großbuchstaben. Sie verschreibt der jungen Frau Tabletten: gegen Eisen-, Folsäure- und Jodmangel, zusätzlich Fischölkapseln und diverse Vitaminpräparate.

Mareike hält nichts von Tabletten, auf nahrungsergänzende Mittel würde sie lieber verzichten. Aber dass es ihrem Kind an Nährstoffen mangelt, will sie nicht riskieren. Bis zur 13. Schwangerschaftswoche hat sie deshalb wie empfohlen Folsäuretabletten eingenommen.

Ab der 16. Woche kamen Magnesiumkapseln hinzu, um vorzeitigen Wehen vorzubeugen. Ihre Eisenwerte waren gut, also konnte die junge Frau auf weitere Zusätze verzichten. Vitamin B12 nahm sie über eine angereicherte Zahnpasta auf. Während der Schwangerschaft ließ sie regelmäßig ihre Blutwerte überprüfen.

Lebensmittel achtsam zubereiten

Edith Gätjen findet die große Besorgnis vieler Ärzte überzogen. Sie ist Ernährungsberaterin am Gießener Institut für alternative und nachhaltige Ernährung und glaubt, dass Schwangere vegan leben können, ohne ihr Kind zu gefährden. Gemeinsam mit einem Kollegen wird sie im Frühjahr 2017 das Buch "Vegan von Anfang an" veröffentlichen, und ihr Mitautor bereitet eine Studie über Veganismus bei Kindern vor.

Wer sich ausgewogen ernähre und Nährstoffmängel durch angereicherte Lebensmittel oder Tabletten ausgleiche, könne auch vegan schwanger sein, sagt Gätjen. Man müsse bei der Zubereitung von Lebensmitteln nur besonders achtsam sein: Haferflocken sollten zum Beispiel über Nacht quellen, so liefern sie am Morgen besonders viel Eisen.

Für die Calciumzufuhr sollten schwangere Veganerinnen angereicherte Pflanzendrinks oder calciumhaltiges Wasser trinken. Jod könne man durch jodiertes Speisesalz oder Nori-Algen zu sich nehmen. So lassen sich viele Nahrungsergänzungsmittel verhindern oder die Dosen verringern. Klar ist: Will eine Schwangere sich vegan ernähren, muss sie sich gut informieren.

Mareike hat das getan. Ihr Baby entwickele sich normal, die Ärzte seien zufrieden, schreibt sie. Die Schwangerschaft hätte allerdings schöner verlaufen können: mit einer unvoreingenommenen Beratung durch die Ärzte.

Der Junge in Mailand schwebt nicht mehr in Lebensgefahr. Seinen Eltern aber wurde das Sorgerecht entzogen. Er soll nun bei seinen Großeltern leben.

Quelle : welt.de

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