EU-Mitgliedschaft? Erdogan spielt ein größeres Spiel

  29 Juli 2016    Gelesen: 594
EU-Mitgliedschaft? Erdogan spielt ein größeres Spiel
Für Erdogan ist eine EU-Mitgliedschaft längst eine verfallene Machtwährung. Er spielt ein größeres, waghalsigeres Spiel. Der Westen muss die Türkei nehmen, wie sie ist - aber nicht bedingungslos.
Es war schon ein merkwürdiger Zufall, dass der türkische Präsident Erdogan mit dem Staat Israel und Putins Russland eine Art strategischen Kontenausgleich vornahm – so, als habe er für die nächsten Stufen der Gleichschaltung Ruhe an den außenpolitischen Fronten herstellen wollen. Der Putsch des 15. Juli hat nur zugespitzt und beschleunigt, was ohnehin in der Planung war.

Die Aktion, wahrscheinlich kemalistisch inspiriert und dazu bestimmt, der islamischen Transformation des Landes zuvorzukommen, verkannte vor allem, dass die Zeiten für militärische Machtübernahmen, jedenfalls in der Türkei, auf lange Zeit vorbei sind. Das bedeutet nicht, dass die Türkei mit sich im Frieden ist und Erdogan ein Held der Demokratie wäre.

Er entfernte sich, zunächst Ministerpräsident und dann Präsident, in den letzten Monaten unübersehbar vom viel gelobten demokratischen Tugendpfad. Ermahnungen aus Richtung EU und USA haben wenig gefruchtet. EU-Mitgliedschaft oder nicht – das ist seit Langem eine verfallene Machtwährung: Erdogan spielte und spielt ein größeres und waghalsigeres Spiel.

Militär, Geheimdienst und Polizei erhalten gerade eine Belehrung, dass der starke Mann am Bosporus die Technik der Gleichschaltung beherrscht. In einer Woche schaffte er, wofür andere mehrere Monate brauchen, Schlag auf Schlag, als folge das Geschehen einem heimlichen Plan.

Ausnahmezustand, die Armee in Schreckstarre, pauschale Verhaftungen, Einschüchterung und brutale physische Gewalt, Kritik und Selbstkritik der Angeklagten, sichtbare Folterspuren an den Verdächtigen, die sich selbst zu bezichtigen und um Gnade zu bitten hatten – die es schwerlich geben wird.

Drei Traumata zu bewältigen

Die Reaktionen von Berlin bis Washington waren hörbar verhalten und kamen immer wieder darauf zurück, auffallend verlegen, dass das System Erdogan demokratisch gewählt wurde – so als ob das irgendeine Gewähr für die Zukunft bieten könnte. Das Geheimnis hinter so viel Wunschdenken und Leisetreterei heißt Geopolitik.

Die Türkei liegt, nicht nur metaphorisch, zwischen den östlichen Diktaturen und den westlichen Demokratien, zwischen Putins Russland, das seine Grenzen noch nicht gefunden hat, und der arabischen Unruhe, die noch lange keine Stabilität finden wird.

Der neo-osmanische Traum der frühen Erdogan-Jahre ist erst einmal wieder ausgeträumt, jedenfalls stark ernüchtert. Das aber bedeutet nicht, dass die Türkei wieder zurückkehrt zum laizistischen autoritären Staat. Im Gegenteil: Die islamische Wiedergeburt ist zugleich Rückkehr zu den Wurzeln und Aufbruch in eine noch undefinierte, eigenständige Modernität.

Es wird im Westen leicht übersehen, dass die moderne Türkei drei Traumata zu bewältigen hat: Sie war zuerst Ergebnis der Niederlage im Ersten Weltkrieg, dann eines Militärputsches und endlich einer militärischen Auflehnung gegen die Entente der Briten und Franzosen.

Der Katastrophe des Osmanischen Reiches entriss Atatürk, Revolutionär gegen alle Vergangenheit und Geschichte, bis hinein in die Lebensformen des Alltags, einen neuen Staat. So entstand der moderne türkische National- und Vielvölkerstaat, mit allen seinen Ungereimtheiten und Ungleichzeitigkeiten.

Heute so und morgen etwas anders

Seit 1952 ist die Türkei Mitglied der Nato, damals gänzlich ausgerichtet an der Logik des Kalten Krieges, Hüter der Südflanke und bis heute – durch Rüstungslieferungen und Stützpunkte wie das Riesen-Flugfeld Incirlik und durch Ausbildung und Technikhilfe – eng verbunden mit den USA.

Und doch zu allen Zeiten, ob Militärdiktatur oder zivile Republik, ein schwieriger Partner, der seinen Sonderweg geht, heute so und morgen etwas anders, und im Bewusstsein der geostrategischen Unentbehrlichkeit niemals ganz berechenbar und verlässlich für den Westen – heute weniger denn je.

Erdogan, führt er nun den Krieg des Westens gegen die Schreckensmänner des IS – oder gegen die Kurden, die von Deutschland Waffen erhalten, Ausbildung, Luftabwehr und vieles mehr? Oder führt er den Luftkrieg der Amerikaner gegen das Regime des Syrers Assad? Die Militärs und Diplomaten der Nato, die ihre Regierungen zu beraten haben, sind nicht zu beneiden.

Mehr als ein nächtlicher Spuk

Wohin treibt die Türkei? Der Putsch, aber auch Härte und Selbstgerechtigkeit des Gegenschlags verraten tiefe Risse in Staat und Gesellschaft des Landes. Auch wenn vordergründig die Ruhe wiederhergestellt ist, brodelt es doch unter der Oberfläche.

Die nach Westen blickenden Unternehmer, Militärs und Wissenschaftler sind nicht für Erdogan. Dieser wäre gut beraten, seinen Triumph zu mäßigen und beides zu zeigen, Großmut und Gelassenheit. Die beschleunigte islamistische Machtergreifung, wie sie jetzt im Gange ist, kann Misstrauen und Zweifel der Außenwelt nur verstärken.

Wie sollen da Investitionen und Kredite kommen, wenn der Boden vergiftet ist? Die Ereignisse am Bosporus sind mehr als ein nächtlicher Spuk, schnell und schnell gegangen. Die vielen Ungereimtheiten, die bleiben, verraten doch, dass etwas Fiebriges in Gang ist, was drakonische Maßnahmen, gar Exekutionen, nicht bewältigen können.

Der Westen muss Erdogans Türkei nehmen, wie das Land nun einmal ist, samt Geschichte und Geografie. Aber man muss es nicht bedingungslos tun, oder nach dem Drehbuch des Recep Tayyip Erdogan.

Das kann nicht gut gehen. Sonst bleibt auf lange Zeit das Gift einer verschleppten Krise, das Staat und Gesellschaft durchzieht. Die Türkei hat eine schwierige Vergangenheit, ja deren mehrere. Was das Land braucht, ist mehr ein Seelenarzt und Versöhner als ein Rächer und Henker.

Der Westen braucht die Türkei

Bis zur abschließenden Klärung aller Verantwortlichkeiten den Verkehr mit der Türkei auszusetzen – das kann sich der Westen nicht leisten. Das östliche Mittelmeer zu sichern ohne die Türkei ist nicht denkbar.

Immerhin haben die Nato-Staaten lange Erfahrung im Umgang mit Bündnispartnern, die anfällig waren für Militärcoups: Portugal unter Salazar, Griechenland unter der Faust der Obristen oder die nicht weniger als viermal durch Militärcoups getestete Türkei.

Der Putsch ist vorbei, aber nicht die Konflikte, die er offenbarte. Die brauchen weisen Rat, und der ist in Erdogans Land ein knappes Gut.

Quelle : welt.de

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