Orwa Nyrabia ist Filmproduzent und wurde mehrfach für seine Arbeiten ausgezeichnet. Unter anderem erhielt er 2014 beim Sundance Festival den Großen Preis der Jury für seinen Film "Return To Homs". Er kommt aus Syrien und lebt in Berlin.
Orwa Nyrabia ist Filmproduzent und wurde mehrfach für seine Arbeiten ausgezeichnet. Unter anderem erhielt er 2014 beim Sundance Festival den Großen Preis der Jury für seinen Film "Return To Homs". Er kommt aus Syrien und lebt in Berlin. © Veera Konsti
Die Erfahrung zeigt, dass es für westliche Beobachter nicht einfach ist, ein solches Narrativ zu akzeptieren. Man reagiert gemeinhin mit dem Vorwurf, Europa habe doch so viel für die Einwanderer getan, ihnen so viele Möglichkeiten geboten, die sie nicht genutzt hätten.
Radikalere Reaktionen gleiten ab ins Biologische: Menschen aus einem bestimmten Kulturkreis litten angeblich unter einer angeborenen Unfähigkeit, Demokratie zu verstehen, und seien zutiefst von extremistischen Ideologien geprägt. Manchmal gibt man auch einfach dem Internet die Schuld: Dieser unkontrollierbare demokratische Raum ermögliche es radikalen Anführern schließlich erst, die emotional labilen Söhne und Töchter muslimischer Rabeneltern-Migranten in ihre Gewalt zu bringen.
All diese Antworten wirken wie ein kindischer Versuch, jegliche Schuld von sich zu weisen. Die Hemmungslosigkeit, mit der Europa seine konkreten Fehler und Versäumnisse in eine Geschichte des kollektiven Wir verwandelt, ist kein neues Phänomen. Es erklärt auch, warum der Tod eines Europäers viel bedeutsamer und schmerzlicher wahrgenommen wird als 100 Nicht-Europäer, die am selben Ort gestorben sind. Oder warum es der IS, Assad oder Putin kaum noch in die europäischen Nachrichten schaffen, wenn sie Tausende Syrer umbringen. Infolge jedes neuen terroristischen Angriffs in Frankreich flog die französische Luftwaffe Angriffe auf den IS in Syrien. Und jeder Einsatz tötete Zivilisten, brachte die Bevölkerung auf, lieferte der IS-Propaganda weitere Argumente.
Panik erfasste die Welt
Wie verwirrt Europas verletztes Kollektivbewusstsein auf das IS-Dilemma reagiert, haben die Ereignisse im Münchner Olympia-Einkaufszentrum auf noch beängstigendere Weise gezeigt. Ein depressiver, in der Schule gemobbter junger Deutscher iranischer Abstammung erschoss erst acht friedfertige Bürger, dann sich selbst. Und ganz München, ganz Deutschland, alle Flüchtlinge im Westen, Europäer und Amerikaner, die Medien und Regierungen, sogar Putins Presse, alle IS-Experten und die gesamte muslimische Welt zitterten mehrere Stunden lang, während man die vermeintlichen Angreifer durch die Stadt jagte.
Das Verbrechen war längst geschehen, der Täter längst tot, als alle Züge angehalten wurden, der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, Anwohner zurück in ihre Häuser gedrängt wurden und sich eine globale Panik verbreitete. Der Albtraum, dass Terroristen frei herumliefen, erfasste die Deutschen und raubte vielen den Schlaf. Sicherlich ist es immer besser, zu wissen, dass die Gefahr gebannt ist, als Menschenleben zu riskieren. Aber stand die lokale und globale Alarmbereitschaft noch im Verhältnis zur tatsächlichen Bedrohung? War die kollektive Panik nicht bereits ein Zeichen der Verletzung? Und dann, als bekannt wurde, dass der junge Mann keine Verbindung zum IS hatte – war das ein Gefühl der Erleichterung?
Wenn man von der Perspektive des einzelnen Attentäters auf eine höhere Ebene zoomt, wird deutlich, dass das Ziel des Terrorismus nicht das Töten und Sterben ist, sondern Angst zu verbreiten. Eine gesamte Nation in Panik zu versetzen, obwohl die Tat gar nicht islamistisch motiviert war, ist schon ein Triumph für den IS. Er wird noch größer, wenn sich die gesamte westliche Gemeinschaft der Bedrohungserwartung unterordnet. Im Zuge dessen war deutlich zu erkennen, dass Angst für die Medien weltweit nur noch ein Rohstoff ist, der gefördert wird auf Kosten des gesellschaftlichen Wohlbefindens, des interkulturellen Verständnisses und Friedens.
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