Kriminalität in Rio: “Pro Quadratmeter ein Polizist“

  06 Auqust 2016    Gelesen: 413
Kriminalität in Rio: “Pro Quadratmeter ein Polizist“
Morde, Überfälle, Drogendelikte - die Kriminalität in Rio de Janeiro ist drastisch gestiegen. Zum Start der Olympischen Spiele greift die Polizei hart durch.
Die Aktion startet am frühen Morgen, und sie gleicht dem Einsatz in einem Kriegsgebiet. 150 Polizisten, schwer bewaffnet wie Militärs, und 300 Zivilbeamte stürmen am Mittwoch in den Complexo do Alemão, einen riesigen Favela-Verbund im Norden Rio de Janeiros. Die 450 Sicherheitskräfte durchkämmen in den verwinkelten Gassen Haus für Haus. Über der Alemão kreisen Hubschrauber, davor sind gepanzerte Fahrzeuge in Stellung gebracht. Die Beamten suchen nach Drogen, Waffen und 47 zur Fahndung ausgeschriebenen Bossen der lokalen Kartelle.

Rund 100.000 Menschen leben im Complexo do Alemão, auch "Gazastreifen Rios" genannt. Hier regiert das "Comando Vermelho", das rote Kommando, die mächtigste Drogengang der brasilianischen Metropole.

Die gigantische Favela, bestehend aus 25 Siedlungen, ist eine der gefährlichsten Gegenden der Olympia-Stadt. Und seit Wochen Schauplatz von Schießereien zwischen den Drogenbanden. Eltern berichten, dass sie ihre Kinder unter den Betten schlafen ließen, um der Gefahr von Querschlägern zu entgehen. Die Bilanz des stundenlangen Einsatzes vom Mittwoch: mehrere verletzte Beamte, ein Dutzend geschnappte Drogenbosse. Die anderen Capos sind flüchtig.

"Kriminalität ist explodiert"

Razzien dieser Art sind in der jüngeren Vergangenheit seltener geworden, seit in hundert der rund tausend Favelas Rios im Jahre 2007 sogenannte Friedenspolizisten stationiert worden waren. Auch im Alemão-Komplex gibt es Einheiten der Unidade de Polícia Pacificadora (UPP). Diese Bürgerpolizei soll nicht nur repressiv vorgehen und die Drogenbanden vertreiben, sondern auch Ansprechpartner für die Anwohner sein.

Das Ergebnis konnte sich sehen lassen: Die Verbrechensrate sank zwischen 2009 und 2012 um die Hälfte. Aber inzwischen stehen die UPP sehr in der Kritik: Während vielerorts die Banden wieder auf dem Vormarsch sind, verschanzen sich die Friedenspolizisten oft in ihren Bunkern oben auf den Gipfeln der hügeligen Favelas.

Aber kurz vor Eröffnung des olympischen Sportfestes zeigte die Staatsmacht im Alemão-Komplex noch mal Zähne und signalisierte so auch der Weltöffentlichkeit, dass sie angesichts der wieder aufflammenden Gewalt in Rios Armenvierteln nicht untätig ist. Morde, Überfälle und Diebstähle haben in diesem Jahr in der "Cidade maravilhosa", der wunderbaren Stadt, lange nicht gesehene Ausmaße angenommen.

"Die Kriminalität ist regelrecht explodiert", sagt der Gewaltforscher Ignacio Cano SPIEGEL ONLINE. In den ersten fünf Monaten des Jahres starben 1870 Menschen durch Gewalteinwirkung. Dies sind 18 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum 2012. Dieses gilt als das seit Langem friedlichste Jahr.

Schießereien unweit von Olympia-Stätten

Aber nicht nur die Favelas wie der Complexo do Alemão fernab der Touristenregionen bereiten den Sicherheitskräften dieser Tage Sorgen. Vor allem in Rios Süden wohnen Arm und Reich dicht beieinander. Drastische Einkommensunterschiede liegen oft keinen Kilometer voneinander entfernt. Auch die hippen Stadtteile Copacabana und Ipanema haben gleich in ihrem Rücken Favelas wie Pavão-Pavãozinho, Cantagalo, Chapéu Mangueira und Morro dos Cabritos, von denen aus man die Touristen an der Strandpromenade und die olympische Beachvolleyball-Arena sehen kann. Auch in diesen Siedlungen nehmen die Schießereien zu. Vermummte Kids mit Badelatschen, Shorts und AK-47-Sturmgewehren prahlen mit ihren Taten.

"Hier siehst du, wie unser wirkliches Leben aussieht", sagte ein Drogenkid kürzlich der Nachrichtenagentur AP. Andererseits unterstützen die Gangs die Ärmsten der Armen, geben Familien Geld für Essen und Medikamente.

Für den Soziologen Ignacio Cano, der im Labor für Gewaltstudien an der Staatsuniversität von Rio de Janeiro forscht, passt das zusammen: "Sicher ist, dass die dramatische Wirtschaftslage und das politische Vakuum einen großen Anteil am neuen Anstieg der Gewalt haben." Schließlich seien den Polizisten die Gehälter verspätet ausgezahlt worden, was deren Motivation nicht gerade steigert. Zudem haben viele Menschen in den Favelas in der tiefsten Krise Brasiliens seit Jahrzehnten ihren Job verloren. Die Arbeitslosigkeit ist auf elf Prozent gestiegen.

"Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit"

Dennoch bestehe während der zweiwöchigen Olympischen Spiele kaum Gefahr, dass die Gewalt explodiere, sagt Soziologe Cano. "Zum einen steht auf fast jedem Quadratmeter Rios ein Polizist." Zum anderen hätten auch die Gangs kein Interesse, aus der Deckung zu kommen, wenn die Weltöffentlichkeit nach Brasilien blickt. "Außerdem machen gerade die Banden während der Spiele gute Geschäfte beim Drogenverkauf", betont der Experte. "Das Problem wird nach den Spielen sein." Wenn die Gelder versiegten, die mit Olympia kommen, wenn die Weltöffentlichkeit dem Land den Rücken kehre. Und wenn wieder in den Vordergrund rücke, dass der Bundesstaat Rio de Janeiro, der für die Sicherheitslage in der Stadt auch die Verantwortung trägt, pleite ist.

Dann werde sich zeigen, dass eine große Chance vertan wurde, ein neues tragfähiges Sicherheitskonzept zu entwickeln, kritisiert Gewaltforscher Cano. Noch immer werde in Rio zu sehr in repressiven Kategorien gedacht, trotz der UPP. "Es muss ein stärker horizontales Konzept her, man muss weg von dem sinnlosen bewaffneten Kampf gegen die Gangs, man muss mehr für den Schutz der Bevölkerung tun, stärker dem Sozialstaat den Zugang zu den Favelas öffnen."

Aber dafür gibt es nicht nur in der Politik, sondern auch in der Gesellschaft keinen Konsens. "40 Prozent der Brasilianer sind überzeugt, dass nur ein toter Bandit ein guter Bandit ist", sagt Cano. Und so wird Rios Sicherheitslage auch nach Olympia noch lange Thema bleiben. "Verglichen mit Staaten der Region wie Chile, Argentinien oder Uruguay sehen wir hier sehr schlecht aus."


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