Russische Türkei-Experten: Annäherung an Russland - keine Alternative zur EU

  12 Auqust 2016    Gelesen: 297
Russische Türkei-Experten: Annäherung an Russland - keine Alternative zur EU
Für Moskau und Ankara wäre nach Worten eines der Chefs des Zentrums für moderne Türkeistudien in Moskau, Juri Mawaschew, zweckmäßiger, die bilateralen Beziehungen nicht auf der „individuellen Chemie“ der beiden Präsidenten, sondern auf Institutionen bilateraler Beziehungen aufzubauen.
„Es könnte etwa der türkische Rat für Zusammenarbeit auf höchster Ebene mit Staaten sein, mit denen die Türkei bereits auf einem strategischen Niveau kooperiert“, sagte er während einer Diskussion in Moskau. Nach dem Treffen beider Präsidenten in Petersburg erwartet der Türkeiexperte, dass endlich die Politik zur obersten Priorität wird, statt nur die Wirtschaft.

Die türkische Staatsführung wollte eine wirtschaftliche Kooperation ohne die gehörige Zusammenarbeit mit Russland im politischen Bereich“, so Mawaschew. „Sie muss jetzt aber auf Dauer angelegt und nicht so anfällig wie noch vor kurzem sein. Dazu soll der neueste politische Wandel und Amtswechsel in der politischen Führung der Türkei beitragen, insbesondere der Rücktritt des Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu, des Architekten der türkischen Außenpolitik und Bindeglieds zwischen den Eliten der USA und der Türkei. Unter ihm hatten die Beziehungen zu allen Nachbarn der Türkei, nicht nur zu Russland, ihr Tief erreicht.“

In diesem Zusammenhang suche Erdoğan einen Ausweg aus der außenpolitischen Sackgasse, in die sich die Türkei selbst getrieben habe, ist sich der Experte sicher. „Im Hinblick auf die sich verschlechternden Beziehungen zu der EU und den USA hat die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit Russland keine Alternative. Der Haken liegt aber darin, dass die traditionelle Rhetorik Erdoğans von der türkischen Gesellschaft in dem Sinne aufgefasst wird, dass man eine negative Bewertung der europäischen Bürokratie aussprechen soll. Erdoğan segelt gleichzeitig im Fahrwasser der Stimmungen seiner Anhänger und ist auf sie angewiesen. Das Widersprüchliche seiner Äußerungen kommt daher, dass er für das inländische Auditorium eines, gegenüber Russland anderes und zu der EU etwas drittes sagen muss.“

Dabei bedeute die Zuwendung zu Russland keinen Bruch mit den USA und Europa, fährt der russische Orientalist fort. „Ausgehend von ihrer geopolitischen Lage sieht sich die Türkei gezwungen, mit allen gut auszukommen, mit Ost und West.“

Man müsse, so der Experte, die Türkei nüchtern, ohne Illusionen zu sehen und allmählich, Schritt für Schritt, mit Umsicht Probleme zu lösen, in der Wirtschaft wie in der Politik, in erster Linie bei der Bewältigung der syrischen Krise.

Laut Alexei Martynow, Chef des Internationalen Instituts für moderne Staaten sind sich alle Schlüsselakteure der Region dessen bewusst, dass man sich an den Verhandlungstisch begeben und Vereinbarungen treffen muss. Allerdings seien in der mittelasiatischen Region viele Nuancen wichtig. Wichtig seien die rituellen Momente, Worte, Gesten. „Obwohl dort alles zerstörbar ist, und die Tradition eine große Rolle spielt, sind sich alle dessen bewusst, dass man Frieden, nicht Krieg aufbauen muss, da alle von dem Krieg genug haben. Die amerikanische Politik, die von vielen Ländern der Region befolgt wurde, und das Zukunftsbild, das ihnen von den USA angeboten wurde, haben sie kritisch enttäuscht.“

Der Experte am Institut für Orientalistik der Russischen Akademie der Wissenschaften, Andrei Areschew, weist auf einen Aspekt des innenpolitischen Lebens in der heutigen Türkei hin, den zu berücksichtigen ist: „Erdoğan wird jetzt versuchen, nicht nur seine Anhänger, sondern auch die Volksmassen einzubeziehen, die ihn negativ einschätzten oder ihm gegenüber gleichgültig, apolitisch waren und die des Ideologisierens müde sind, ob auf kemalitstische, islamistische oder irgendeine andere Art. Wenn man gegen die Putschisten auf die Straße gegangen ist, bedeutete es nicht etwa, man hätte dies zu Erdoğans Unterstützung getan. Er hat aber die Leute zu seinem Chearleading-Team gerechnet, und sie werden bei den Wahlen für ihn stimmen, ungeachtet der unzähligen Verhaftungen im Lande.“

All das diene der Umsetzung seiner Pläne zur Einführung des präsidentiellen Regierungssystems, ist der Experte überzeugt. „Wer in der heutigen Türkei nicht hinter Erdoğan steht, wirkt durchaus verdächtig. Es ist eine Art Falle für die Opposition wie für die Gesellschaft. Darum wird die Unterstützung Erdoğans durch die ganze, von nun an konsolidierte Gesellschaft beträchtlicher sein.“
Die Experten waren sich darüber einig, dass jedes Land eigene Interessen hat, und jeder Akteur je nach seiner Fähigkeit und Flexibilität seine Chancen wahrnimmt. Also werden sowohl die Türkei als auch Russland die aktuelle Lage zu eigenen Zwecken maximal ausnutzen und einen Mechanismus suchen, der ihre Meinungsverschiedenheiten bezüglich Syriens nivellieren könnte.

Nikolaj Jolkin

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