Das Selbstbild von Magersüchtigen ist wie ein Wahn

  23 Oktober 2015    Gelesen: 949
Das Selbstbild von Magersüchtigen ist wie ein Wahn
Wer magersüchtig ist, merkt lange nicht, dass er krank ist. Denn Anorexie ist mehr als der Wunsch, schlank zu sein. Ein Besuch in einer Klinik für Essstörungen, wo die jüngste Patientin 11 Jahre ist.
Paula (Name geändert) lernte gerade fürs Abitur, da merkte sie: Sie weiß gar nicht, was sie danach machen soll. Was sie anfangen will mit ihrem Leben, wer sie eigentlich ist. Fragen, die sich viele Jugendliche stellen. Doch bei Paula fraß sich die Unsicherheit durch ihre Seele, und die Schülerin begann, sich eine eigene Sicherheit zu schaffen. Eine, über die sie ganz allein bestimmen konnte. Die Struktur, die sie sich selbst verpasste, bestand aus Sport und strikter Ernährung. Was gesund beginnen kann, endet für manche Frauen lebensbedrohlich: Bei Paula führte der Wunsch nach Kontrolle im Leben zu Anorexia nervosa. Magersucht.

Einige Jahre später sitzt sie im Ledersessel der Cafeteria in einer Klinik für Essstörungen. Die Herbstsonne scheint durch die bodentiefen Fenster und lässt ihr langes blondes Haar glänzen. Paula studiert jetzt Betriebswirtschaftslehre, sie ist 22 Jahre alt, 1,72 Meter groß und wiegt 53 Kilogramm. Laut Tabelle ist das zwar immer noch zu wenig, aber es ist schon wesentlich mehr als zu dem Zeitpunkt, den die Studentin als Tiefpunkt beschreibt: 42 Kilogramm. "Ich habe immer viele Diäten gemacht und Sport getrieben, um abzunehmen", sagt sie. "Ich fühlte mich unsicher und habe mich sehr stark unter Druck gesetzt." Fitness war für sie zum Zwang geworden.

Auch Frauen jenseits der Wechseljahre

Magersucht ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeitsrate. Eines von 100 Mädchen zwischen 12 und 25 Jahren bildet eine Magersucht aus, besagt die Statistik. Doch muss die Altersspanne mittlerweile viel weiter gefasst werden als noch vor wenigen Jahren. Laut dem Bundesfachverband Essstörungen erkranken vermehrt sehr junge Jugendliche sowie Frauen über 30, sogar über 50 Jahre. Heute sprechen schon Zwölfjährige von ihren "Problemzonen", und der Zwang zum krankhaften Abnehmen kann selbst nach den Wechseljahren noch vorhanden sein.

Die körperlichen Folgen des Hungerns sind nicht zu unterschätzen: zu wenig weiße Blutkörperchen, Herz-Kreislauf-Probleme, Osteoporose, Muskulaturabbau, erhöhte Leberwerte, gestörte Nierenfunktion bis hin zu Gehirnschwund. Für bis zu zehn Prozent der Patientinnen im Langzeitverlauf endet die Krankheit mit dem Tod, sei es durch medizinische Komplikationen des Hungerns oder durch Suizid.

„Ich habe mir immer Kleidung in Größe 36 oder 38 gekauft. Die habe ich aber nie ausgefüllt“

Sabine, 21 Jahre alt, 1,66 Meter groß, 44 Kilo

Im Sessel neben Paula sitzt Sabine (Name geändert), ihre Wimpern sind dezent getuscht, ihr Blick ist offen. Sabine ist 21 Jahre alt, 1,66 Meter groß und wiegt 44 Kilogramm. Das ist ein Fortschritt. Die junge Frau trägt einen Pullover mit kräftigem Strickmuster und eine enge Jeans. Es ist die einzige Hose, die nah an ihrer Haut sitzt. Alle anderen schlabbern. "Ich habe mir immer Kleidung in Größe 36 oder 38 gekauft. Die habe ich aber nie ausgefüllt. Ich hatte nur immer gehofft, dass sie mir passen." Taten sie aber nicht.

Als der Körper von Sabine seine Rebellion begann, wog er gerade noch 42 Kilogramm. Elf Stunden hatte die gelernte Krankenschwester mit einer Bleischürze im Labor gearbeitet, da brach sie zusammen. Der Arzt diagnostizierte dasselbe wie bei Paula. Magersucht.

Der Alltag ist kaum zu schaffen

Sabine war der Sonnenschein der Familie, immer fröhlich, immer diszipliniert. Als Kind, als Jugendliche, als Erwachsene. Sie ging zur Arbeit, auch wenn sie krank war. Sie erledigte ihre Aufgaben, auch wenn sie lieber andere gehabt hätte als die im Labor. Gegen den Frust ging die junge Frau abends ins Fitnessstudio. So verlor sie innerhalb eines Jahres elf Kilo Körpergewicht, obwohl sie schon vorher sehr schlank war. Bei unter 47 Kilo fehlte ihr die Kraft für den Sport: "Mein Leben bestand nur noch aus Arbeit."

Im Hungerzustand fährt der Körper sämtliche Funktionen herunter. Temperatur, Puls, Blutdruck, alles wird niedriger. Der Energieverbrauch wird gedrosselt. Der Organismus verordnet sich selbst die Sparflamme. Einen normalen Alltag mit Schule oder Arbeit kann ein hungernder Körper kaum schaffen. Die Symptome, mit denen Essgestörte zunächst zum Hausarzt gehen, sind daher meist Kreislaufprobleme, Konzentrationsschwächen, Magen-Darm-Beschwerden, zum Gynäkologen gehen sie, wenn schließlich die Periode ausbleibt.

"Wichtig ist dann, das Nichtgesagte zu hören", sagt Dr. Wally Wünsch-Leiteritz. Die Fachärztin für Innere Medizin, Psychotherapie und Ernährungsmedizin leitet die Abteilung für Essstörungen in der Klinik Lüneburger Heide in Bad Bevensen und ist Vorstandsmitglied im Bundesfachverband Essstörungen. "Essstörungen sind nicht nur ein Schlankheitstick, eine Pubertäts- oder Lebenskrise. Sie sind gefährlich. Das ganze Wahrnehmen auf sich selbst bezogen ist gestört respektive eingeengt, das Ich-Erleben, das Denken, Fühlen und daraus folgend das Verhalten." Die Therapie in einer der gut 15 Spezialkliniken in Deutschland beruht daher auf zwei Säulen: der Wiederernährung des Körpers und der Psychotherapie der Seele.


„Ein Leben voller Ängste und Zwänge, aber auch Ehrgeiz.“

Dr. Wally Wünsch-Leiteritz, Fachärztin für Innere Medizin, Psychotherapie und Ernährungsmedizin

Jede Patientin bekommt ihren individuellen Essplan ausgehändigt, kann jede Angabe über Kalorien und Fettgehalt nachrechnen. Das ist wichtig, denn die Mädchen und Frauen bräuchten diese Kontrolle ganz häufig, sagt Wünsch-Leiteritz. "Sie leben ein Leben voller Ängste und Zwänge, aber auch Ehrgeiz. Ihnen fehlt die Rückkopplung an die Realität. Viele Außenstehende formulieren Essgestörten gegenüber sehr vorsichtig, anstatt klar und deutlich zu sagen: ,Das siehst du übertrieben.` Genau das tun wir hier."

Gesunde Ernährung ist ein Leitbild der Gesellschaft geworden. Doch das Ideal kann zu einer Art Wahn werden. Gekoppelt mit Körperkult und Fitnessvorstellungen gilt das auch für Jungen und Männer. Wenn sie versuchen, ein seelisches Ungleichgewicht mit Muskelpaketen zu kompensieren, können auch sie eine Magersucht entwickeln. Auch wenn Jungs und Männer in der Minderheit sind – von 15 Betroffenen in der Klinik ist im Durchschnitt einer männlich: Die Krankheit kann bei ihnen wegen des ohnehin niedrigeren Körperfettanteils schneller gefährlich werden als bei Frauen.

"Betroffene wollen an ihrem Körper etwas ändern, um sich wohler zu fühlen, was so nicht zu erreichen ist", sagt Fachärztin Wünsch-Leiteritz. Ziel der Therapie ist neben der Gewichtszunahme daher vor allem die psychische Stabilisierung. "Essen genießen zu können, auch gemeinsam mit anderen, ist eine wichtige Ressource für Lebensfreude", sagt die Ärztin. "Es geht darum, lockerer zu werden, um entspannter mit dem Leben und seinen altersentsprechenden Anforderungen umgehen zu können."

"Ich dachte, ich sei nicht krank genug"

Manchmal aber wird die Panik bei der ersten Gewichtszunahme so groß, dass ein Patient aus der Klinik flieht. Es ist selten, aber es passiert. Erst vor wenigen Wochen ist ein Mädchen aus einer Lübecker Klinik verschwunden. Auch Wünsch-Leiteritz kennt solche Fälle. Bei 250 Patienten im Jahr seien es in Bad Bevensen ein bis zwei, die aber zumeist wieder zurückkämen. "Oft liegt der Grund darin, dass die Betroffene nicht freiwillig in die Klinik gekommen ist." Wer unsicher ist oder Angst vor einer stationären Therapie hat, dem rät die Ärztin, sich mögliche Einrichtungen vorher schon anzusehen. Oder Bezugspersonen in ein Hotel in der Nähe einzuquartieren.

Paula hätte gern früher den Schritt in eine Klinik gewagt, sagt sie heute. "Ich bereue, dass ich mir nicht schon viel eher eingestanden habe, dass ich Hilfe brauche. Ich dachte immer, ich sei nicht krank genug dafür. Aber den Kampf alleine zu kämpfen, ist verdammt hart."

Die jüngste Patientin in Bad Bevensen hat früher ihren Weg in die Klinik gefunden. Sie ist elf Jahre alt – und hat wegen ihrer Essstörung bereits eine lange Vorbehandlung in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie hinter sich.

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