Darf ein Vizekanzler den Stinkefinger zeigen? Ja!

  18 Auqust 2016    Gelesen: 498
Darf ein Vizekanzler den Stinkefinger zeigen? Ja!
Sigmar Gabriel wehrte sich mit dem Mittelfinger, weil gegen Rechtsextreme keine Fakten helfen. Und natürlich muss gleiches Recht für alle gelten – und ein Kanzlerkandidat ist auch nur ein Mensch.
Bravo, Herr Vizekanzler! Statt dem rechten Mob appeasend die Hand zu reichen, halten Sie ihm nur rund ein Fünftel davon entgegen, Ihren Mittelfinger. Das tut aus so vielen Gründen richtig gut, erfrischt geradezu. Denn es ist die ehrliche, ungeschminkte Reaktion auf provozierende Unverschämtheiten einiger Verbalpöbler.

Diese ist erlaubt; auch denen, die Kanzler werden wollen. Denn natürlich muss gleiches Recht für alle gelten – und ein Kanzler(kandidat) ist am Ende hoffentlich eben auch nur ein Mensch.

Sigmar Gabriel war bereits vor einem Jahr zum Hassobjekt der rechten Szene geworden, nachdem er Krawallmacher, die im sächsischen Örtchen Heidenau gegen Flüchtlinge demonstrierten, als "rechtes Pack" bezeichnet hatte. Seitdem haben sie den SPD-Chef besonders auf dem Kieker.

Sigmar Gabriels Vater war sein Leben lang überzeugter Nationalsozialist; gerade bei diesem Thema mischt sich bei Gabriel also das Politische, der Job, mit dem ganz privaten Leben. Genau damit zogen sie ihn auf; maskiert, anonym, feige.

Und seine Reaktion ist nicht nur menschlich, sie ist zudem auch sehr deutlich. Hochpolitisch und dabei sehr persönlich. Wenn wir immer wieder fordern, dass Politiker den ewig einlullenden Gestus ablegen, Klartext sprechen und Authentizität zeigen, dann ist es fast ein Feiertag für die mediale Demokratie, wenn einer der höchsten Vertreter unseres Staates auf seine ganz eigene Art zeigt, was er von rechten Spinnern – und eben auch von persönlichen Beleidigungen – hält.

Und überhaupt: Wenn schon Universalgenie Goethe seinem Götz von Berlichingen den "schwäbischen Gruß" an den Kaiser in den Mund legt ("Vor Ihro Kaiserliche Majestät hab ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber, sag`s ihm, er kann mich im Arsche lecken!"), was ist da schon ein kleines, hochgerecktes Wurstfingerchen?

Auch Peer Steinbrück zeigte den Stinkefinger

Dabei muss man gar nicht so weit in der Geschichte zurückgehen. Gabriels Parteifreund Peer Steinbrück hob vor zwei Jahren zu Wahlkampfzwecken diesen Finger als Zeichen der Coolness und Unabhängigkeit auf einem Magazintitel – und wirkte eher bemüht bis albern. Nationalspieler und Hitzkopf Stefan Effenberg zeigte ihn den Fußballfans – und musste die WM 1994 vorzeitig verlassen, noch vorzeitiger als seine durchs Turnier stolpernden Mannschaftskollegen.

Warum wird überhaupt eine so große Sache aus diesem einen Finger gemacht? Natürlich, die Symbolik – aber ist diese nicht längst zu einem allgemeinen "Ich lass mir das von dir nicht gefallen, und DAS halte ich von deiner Art" abstrahiert? Was hätte Gabriel denn sonst zeigen sollen? Eine lange Nase? Hasenohren?

Natürlich könnte man das Vorbildargument anführen, Stinkefinger gehört sich einfach nicht, schon gar nicht für einen Vizekanzler, Chef einer großen Partei – womöglich bald Kanzlerkandidat! Ja, eigentlich richtig. Eigentlich.

Wenn nämlich der Umgang so hart, so respektlos, ja erniedrigend ist wie in diesem Fall, dann wäre es geradezu lächerlich zu beschwichtigen und andererseits unerträglich devot, es einfach zu ignorieren.

Und das sollte auch die Hürde sein, das Kriterium, ab wann eine spontane Geste, die sich unter der Gürtellinie abspielt, goutiert werden kann: Wer derart feige und respektlos mit Menschen umgeht – egal ob mit dem Vizekanzler oder mit Opa Kasupke von nebenan –, der hat es nicht besser verdient. Völlig gleich übrigens, ob die verbalen Angriffe von rechts, links, oben oder unten kommen.

Der Mittelfinger als kleine, aber wirksame Abwehrwaffe für alle, die eben nicht immer die andere Wange hinhalten wollen. Und in diesem Fall reagiert Gabriel als Mensch, das steht ihm zu, es steht jedem zu.

Vielleicht unbeherrscht – aber nicht übertrieben

Unbeherrscht? Vielleicht. Übertrieben? Ganz sicher nicht. Bestünde auch nur ansatzweise die Hoffnung, den Schreihälsen argumentativ beizukommen, dann wäre das sicher die bessere Lösung gewesen. Leider muss man kein Politologe sein, um inzwischen begriffen zu haben, dass man den Hasskappen nicht mit Fakten, Gedanken oder gar Respekt beikommen kann. Warum also Perlen vor die … nun ja Leute, die mit Perlen nichts anfangen können, werfen?

Bleibt die nonverbale, quasi manuelle Kommunikation. Statt der versöhnenden Raute ein deutlicher Mittelfinger – ist so jemand auch reif, hat er das Format für den Chefsessel des Kanzleramtes? Ja, denn niemand will einen emotionslosen Roboter. Hätte Gabriel nicht reagiert, wäre das viel armseliger gewesen. Das Einzige, was man ihm vorwerfen kann: Warum hat er nicht gleich beide Hände benutzt?

Lesen Sie hier, warum Gabriel aus Sicht von Ulf Poschardt den Stinkefinger nicht hätte zeigen dürfen.

Quelle : welt.de

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