„Einmalig“ wollte man diese humanitäre Maßnahme setzen. Es wurden Monate daraus, mehr als eine Million Menschen reisten in Österreich ein, die meisten zogen nach Deutschland und Skandinavien weiter. Beiden Regierungschefs und Tausenden, die mithalfen, diese Menschen zu versorgen, war nicht bewusst, dass diese Öffnung ein Signal für eine kleine Völkerwanderung war. Nur Horst Seehofer, einst Bündnispartner Merkels, der in dieser historischen Nacht nicht erreichbar war, gab tags darauf laut „Zeit“ zu bedenken: „Wir werden den Pfropfen nicht mehr zurück in die Flasche bekommen.“ Seehofer hatte recht. Ein Jahr später muss man die Türkei darum bitten und bezahlen, das Service für Flasche und Korken zu übernehmen.
An die immensen Probleme, die Hundertausende mit sich bringen, an die schier unmögliche Integration so vieler Menschen und an die Frage, ob Bevölkerung und Wähler dies wollten, dachte damals kaum eine der handelnden Personen. Die Entscheidung dieser einen Nacht fiel wohl im Affekt, ist aus damaliger Sicht verständlich. Ein paar Tausend Menschen – überwiegend echten Flüchtlingen – musste man helfen. Hundertausende dann unkontrolliert, nicht registriert und vor allem unversorgt ins Land zu lassen war aber ein Staatsversagen. Eine Entscheidung dieser Größenordnung dürfen Politiker nicht einfach so über Nacht fällen und dann stehen lassen. Zumal sie einen massiven Verlust des Vertrauens in die Autorität des Staates und unseres Systems verursacht hat. Wenn über Nacht Regeln der Souveränität, der Sicherheit und der gesamten Einwanderungs- und Asylpolitik eines Landes außer Kraft gesetzt werden, wenden sich die Wähler nicht nur Protestparteien zu, sondern sie fragen schlicht: Wozu haben wir dieses gesamte teuer finanzierte und bisher gut funktionierende Gemeinwesen?
Interessanterweise begann still und heimlich Deutschland eine Wende, die Österreich dann mit Getöse vollzog und wofür es kritisiert wurde. Die Grenzen werden kontrolliert, Menschen werden auch abgewiesen, Flüchtlinge jedoch weiterhin zu den Asylverfahren zugelassen. Zwei neuralgische Punkte hat aber weder Deutschland noch Österreich ernsthaft diskutiert oder gar in der Planung berücksichtigt: Was passiert, wenn die Türkei die Menschen durchwinkt? Eine Wiederholung von 2015? Wohl kaum, die absolute Mehrheit der Wähler wäre dagegen. Also könnte es doch zu den Szenen und Bildern kommen, die bis auf Viktor Orbán bisher keiner zugelassen hat: mit Menschen, die zu Hunderten und vielleicht zu Tausenden an den Grenzen stranden. Und der zweite Punkt: Wenn die ausgesprochenen (Österreich) und unausgesprochenen Obergrenzen erreicht sind, werden dann tatsächlich etwa auch echte Kriegsflüchtlinge abgewiesen? Die Politik beantwortet das vorsichtig mit Ja und gehorcht damit der Not.
Und noch eine Erkenntnis aus dem Jahr 2015: Die Medien haben in ihrer Aufgabe, der Vernunft zu folgen, versagt, sie sind – übrigens in der entgegengesetzten Richtung auch nach Köln – nur den Gefühlen gefolgt. (Diese Zeitung versuchte sich dem zu entziehen.) Journalisten wollten gut und edel sein. Sie sollten aber analytisch und kühl sein. Sie haben meist noch immer mehr Zeit zu reflektieren als gestresste Politiker.
Quelle:diepresse
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