Einer gegen 77 Millionen

  22 Auqust 2016    Gelesen: 796
Einer gegen 77 Millionen
Justin Bieber hat seinen Instagram-Account gelöscht – er ärgerte sich über hasserfüllte Kommentare seiner Fans. Was bedeutet das für die Zukunft des Pop?
Sich ernsthaft mit den Instagram-Accounts von Teenagern und Anfang-Zwanzigjährigen zu beschäftigen, das ist ein bisschen so, als würde man für begrenzte Zeit noch einmal die eigene Ernährung auf Sprite-Wodka, Tiefkühlpizza und Pringles-Chips umstellen: kann man machen, aber es rächt sich.

Dieser Tage kommt einem Social Media manchmal vor wie eine verführerische Parallelwelt, ein sagenumwobener Ort hinter den tausend Spiegeln der Smartphone-Displays, an dem aus einem Niemand ein Prinz werden kann und aus jedem Ritter ein Bösewicht: das Internet im Jahr 2016 ist ein von mentalen Teenagern bevölkertes Königreich der ewigen Pubertät. Doch es gibt kein Entrinnen: der Diskurs zwischen Fans und Künstlern, ohne den Pop nicht existieren würde, dieser vielschichtige, in vielen Medien geführte Diskurs findet heute eben vor allem auf Twitter, Facebook und Instagram statt. Diese Woche hat sich einer der Hauptprotagonisten dieses Diskurses verabschiedet. Justin Bieber has left the Instagram-Building!

„Wenn ihr echte Fans wärt, dann wärt ihr nicht so gemein.“

Der 22-jährige Sänger war sauer über seine Fans und wie sie mit seiner neuen Flamme Sofia Richie (Tochter von Lionel) umgehen, mit der er sich zuvor häufig fotografieren ließ. „Wenn ihr echte Fans wärt, dann wärt ihr nicht so gemein zu Leuten, die ich mag.“ Zuerst droht er nur, den Account privat zu machen, dann stieg seine Exfreundin Selena Gomez in die Diskussion ein: „Wenn du mit dem Hass nicht umgehen kannst, hör auf Bilder von deiner Freundin zu posten lol. Das sollte etwas Besonderes zwischen Euch beiden bleiben.“ Kurz darauf war Bieber weg, alle Bilder gelöscht - manche hatten Millionen Likes.

Das wirft Fragen auf, die man sich zuvor nie stellte wie: Wer ist Selena Gomez? Und warum hat die 24-Jährige 95Millionen Instagram-Follower und jemand wie Adele nur 16 Millionen? Eine Musikerin, die über 100 Millionen Platten verkauft hat, ist für die Instagram-User weniger interessant als ein Ex-Disneystar mit zwei durchschnittlichen Popalben?

Zählt man Facebook und Twitter dazu, dann loggen sich um die 180 Millionen Menschen regelmäßig ins Internet ein, um zu erfahren, was Selena Gomez tut und sagt und postet. Die Website AdWeek hat errechnet, dass jeder einzelne Gomez-Post einem Werbewert von 550000 Dollar entspricht. Bei Bieber werden es kaum weniger gewesen sein – und er ist immer noch auf Twitter und Facebook, also nicht komplett verschwunden. Dennoch ist sein Instagram-Exitus eine Geste, die man kaum überschätzen kann. Bieber ist mit sozialen Medien erst zum Star geworden, er wurde auf Youtube entdeckt. Im Internet konnte man die Verwandlung vom talentierten Jungen zum Mann und Popkünstler live verfolgen, Instagram & Co. lassen Fans am „Alltag“ ihrer Stars unmittelbar teilhaben, und wenn Justin Bieber heute nackend über eine Terrasse läuft, hat das einen ähnlichen Effekt wie der zur Schau gestellte Hintern von Kim Kardashian: sofortiger Beinahezusammenbruch des Internets.

Plötzlich wuchsen dem Jungen Muskeln und Tattoos

Im Teenie-Pop wie im Leben selten besuchter Verwandter scheint die Zeit schneller zu vergehen als im eigenen Leben, einfach weil man nicht so oft hinschaut. Vor gefühlten drei Wochen war Justin Bieber der pausbackige kanadische Junge mit der Gitarre, von dem man als junger Erwachsener gar nicht erst wissen wollte, wie er klang. Niemand über zwanzig interessierte sich für dieses Muttersöhnchen, bei dessen Konzerten kleine Mädchen schrieen, als würde man sie über offenem Feuer rösten.

Um 2013 wuchsen dem Jungen mit dem niedlichen Haarschnitt plötzlich Muskeln, Tattoos und schwere Halsketten. Als er für Calvin Klein modelte, wurde lang und breit über Biebers package diskutiert – digital manipuliert oder nicht? Solche Fragen treiben die Menschheit um. Teenie-Stars morphen stellvertretend für ihre Fans von liebenswürdigen, pickellosen Herzensbrechern zu Sexmonstern, die mit wechselnden Starlets nach Barbados fliegen, Marihuana rauchen und Hotelzimmer verwüsten.

Bei Bieber verläuft dieser aus der Popgeschichte wohlvertraute Prozess der Mannwerdung vor dem Hintergrund einer sich blitzartig wandelnden Medienkultur, inklusive seiner Beziehungen, die unter direkter Anteilnahme von hundert Millionen Menschen geführt werden.

Die Liebe der Fans kann jederzeit in Hass umschlagen

Nicht nur wurde Bieber im Social-Media-Zeitalter zum Star, auch seine Fans wuchsen in diesem Umfeld auf. Ihre Liebe kann jederzeit in Hass umschlagen, die „Beliebers“ wollen geliebt werden von ihrem Idol, schließlich sind sie am längsten an seiner Seite. Bieber hat sich getraut, Instagram den Mittelfinger zu zeigen, wie man es als Rebell früher gern mit der Musikpresse gemacht hat.

Deren Rolle hat Social Media übernommen, wenn es um die Promotion von Musik geht. Der Wert, den ein Instagram-Account mit 77 Millionen Abonnenten hat, ist gigantisch. Firmen geben Millionen aus, um Bruchteile dieser Werte zu erreichen. Und Bieber wirft diesen Schatz einfach weg? Man nenne mich einen Belieber, aber das ist nicht mehr Pop, das ist Rock’n’Roll.


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