Amtsenthebung von Dilma Rousseff: Eine historische Ungerechtigkeit

  01 September 2016    Gelesen: 670
Amtsenthebung von Dilma Rousseff: Eine historische Ungerechtigkeit
Dilma Rousseff war eine schwache, aber ehrliche Präsidentin Brasiliens. Sie wurde von einer weitgehend korrupten und reformunfähigen politischen Klasse zu Unrecht aus dem Amt gejagt.
Das Wort Putsch wiegt schwer in Lateinamerika. Es wird assoziiert mit Bildern von grimmigen Generälen mit Sonnenbrillen, Panzern auf den Straßen, Gefolterten und Verschwundenen. Es wirkt daher befremdlich, das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff in Brasilien als Putsch zu bezeichnen. Aber wie soll man es nennen, wenn eine demokratisch gewählte Staatschefin mit einer zweifelhaften legalen Begründung aus dem Amt vertrieben wird?

Die Männer, die den Machtwechsel in Brasília erzwungen haben, sind keine Blutsäufer wie Pinochet. Es sind Herren (und einige Damen) in Anzügen und Kostümen, viele sind Großgrundbesitzer und Unternehmer, die meisten Millionäre. Gegen viele wird wegen Korruption, Geldwäsche oder Gründung einer kriminellen Vereinigung ermittelt, einige wurden bereits verurteilt. Aber sie haben es trotzdem geschafft, Privilegien und Straffreiheit zu bewahren. Als Senatoren hielten sie Gericht über eine Präsidentin, die auch nach Ansicht ihrer Gegner ehrlich und unbescholten ist.

Brasiliens Senat repräsentiert eine politische Klasse, die älter ist als die Demokratie. Sie beruht auf Dynastien, die oft seit Jahrzehnten ganze Bundesstaaten wie ihr privates Königreich regieren. Die meisten Senatoren stehen für ein System, das die Ex-Guerillera Rousseff nie wirklich akzeptiert hat - und das sie im Innersten zutiefst verachtet.

Sie ist keine Politikerin, sie beherrscht das Tricksen nicht

Rousseff hatte sich mit dem System arrangiert, weil sie anders nicht regieren konnte. Doch als dessen oberster Vertreter, der wegen Korruption und Geldwäsche angeklagte ehemalige Parlamentspräsident Eduardo Cunha, sie bedrängte, ihm gegen die Aberkennung seines Mandats beizustehen, verweigerte sie sich. Jetzt hat das System zurückgeschlagen. Man muss kein Anhänger Rousseffs, ihres Vorgängers Lula oder der Arbeiterpartei PT sein, um festzustellen: Dieser Frau wurde eine historische Ungerechtigkeit angetan.

Das Impeachment sei ein legitimes politisches Verfahren, sagen Rousseffs Kritiker. Sie werde für ihre Politik abgestraft, die das Land in die schlimmste Wirtschaftskrise der vergangenen Jahrzehnte geführt habe.

Doch dafür wurde das Impeachment von den Verfassungsvätern nicht erfunden. Es ist eine Klausel, die die Nation vor Verbrechern im höchsten Staatsamt schützen soll. Deshalb sieht sie auch vor, dass der oder die Verurteilte für acht Jahre alle politischen Rechte verliert. Brasiliens politische Klasse hat die Klausel missbraucht, um sich einer unliebsamen Präsidentin zu entledigen.

Das schlechte Gewissen der Rousseff-Kritiker

Weil wohl auch einige Senatoren Zweifel hegten, dass ihr Vorgehen verfassungskonform sei, beließen sie Rousseff in einer zweiten Abstimmung das Recht, ein öffentliches Amt auszuüben. Sie zerlegten damit die Klausel in der Verfassung und erfanden gewissermaßen ein Impeachment Soft - deutlicher kann man das schlechte Gewissen wohl kaum zum Ausdruck bringen.

Brasilien hat ein präsidentielles Regierungssystem; man kann eine Regierung nicht einfach absetzen und Neuwahlen ausrufen, wenn sie ihre Mehrheit verliert, wie im Parlamentarismus. Der einzige legitime Machtwechsel erfolgt alle vier Jahre über Wahlen. Aber so lange wollten Rousseffs Gegner nicht warten. Sie haben Haushaltsmanipulationen, wie sie auch unter Rousseffs Vorgängern üblich waren, zum Vorwand genommen, um einen Casus gegen die Präsidentin zu konstruieren.

Drei der sechs ursprünglichen Anklagepunkte waren bereits in sich zusammengefallen, als es Anfang dieser Woche zum Prozess kam. Auch die Staatsanwaltschaft hatte festgestellt, dass es sich bei den Vorgängen, die Rousseff zur Last gelegt wurden, nicht um Amtsmissbrauch gehandelt habe. Sie hat sich keiner strafbaren Handlung schuldig gemacht. Aber all das zählte nicht. Das Impeachment wurde zu einer politischen Abrechnung: formal korrekt, aber auf dünner legaler Basis.

Rousseff hat den Senatoren während einer elfstündigen Sitzung am Montag bis zur Erschöpfung Rede und Antwort gestanden. Sie hätte das nicht nötig gehabt, aber sie bestand darauf: Sie ist eine Kämpfernatur. Sie hat bis in jede Einzelheit erläutert, wie die Entscheidungsprozesse bei der Aufstellung des Etats funktionieren, wie viele Institutionen daran beteiligt sind, wer alles mitredet. Wer zuhörte, konnte lernen, wie die Regierung in ihrem Innersten funktioniert, wie pedantisch diese Frau sich an die Verfassung gehalten hat. Der brasilianische Staat ist keine Jahrmarktbude, wo die Präsidentin nach Belieben über Geld verfügen kann. Aber das wollte da schon niemand mehr wissen. Das Verfahren war eine Farce, das Ergebnis war vorher schon politisch ausgekungelt worden.

Doch die Opposition hat sich mit der Absetzung Rousseffs einen Bärendienst erwiesen. Sie hat das Amtsenthebungsverfahren banalisiert: Zwei von vier gewählten Präsidenten Brasiliens seit dem Ende der Militärdiktatur Mitte der Achtzigerjahre wurden so aus dem Amt gefegt. Nur Fernando Henrique Cardoso und Lula haben ihr Mandat wie vorgesehen beendet. Wenn in Zukunft jeder unbeliebte Staatschef per Impeachment aus dem Amt gejagt wird, dürfte sich die Halbwertzeit brasilianischer Präsidenten weiter verringern. Die tiefe Vertrauenskrise des politischen Systems wurde mit der Absetzung Rousseffs nicht behoben. Im Gegenteil.

Und jetzt? Ausgerechnet Temer

Auf Brasilien kommen unruhige Zeiten zu. Und ausgerechnet der Mann, der das Land durch diese Krise steuern will, könnte ihr nächstes Opfer werden: Michel Temer, der jetzt offiziell als neuer Präsident Brasiliens vereidigt wird, will dem Land eine konservative Wende aufzwingen, für die er nicht an den Urnen legitimiert wurde.

Temer ist im Land ebenso unbeliebt wie Rousseff. Wenn er auf seinem Kurs beharrt, wird er das Land weiter spalten. Geht er dagegen auf die PT und Lula zu, muss er damit rechnen, dass die Wirtschaft und seine konservativen Koalitionspartner ihn fallen lassen - viele Wirtschaftsexperten bezweifeln schon jetzt, dass Temer die ihrer Ansicht nach nötigen Reformen durch den Kongress bringt. Wenn Temer es nicht schafft, die Inflation unter Kontrolle zu bringen und die Wirtschaft anzukurbeln, könnte Brasilien ein neues verlorenes Jahrzehnt bevorstehen, so wie in den Achtzigerjahren.

Umstürze, das lehrt Lateinamerikas Geschichte, sind nur erfolgreich, wenn sie von breiten Teilen der Zivilgesellschaft unterstützt werden. Brasilien ist keine Ausnahme. Rousseff war eine schwache Präsidentin, ihre Zustimmung betrug zum Schluss weniger als zehn Prozent. Mit einer verfehlten Wirtschaftspolitik und ihrer autoritären, oft schroffen Art hat sie zu ihrem Niedergang beigetragen.

Für die Wirtschaftskrise ist sie nicht allein verantwortlich, Brasilien leidet besonders unter dem Verfall der Rohstoffpreise und der schwächelnden Nachfrage aus China. Aber Rousseff hatte das wahre Ausmaß der Krise im Wahlkampf verschleiert und zu spät reagiert. So verlor sie den Rückhalt der Mittelschicht, ohne die sich in Brasilien nicht regieren lässt.

Diese Mittelschicht wollte um jeden Preis verhindern, dass sich die Arbeiterpartei von Ex-Präsident Lula weiter an der Macht hält. Sie fürchtete, dass Brasilien enden würde wie Venezuela - eine absurde Vorstellung. Doch der Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras schürte unter Brasiliens Eliten die Furcht vor einer linkspopulistischen Parteiendiktatur. Sie übersahen dabei, dass es die Regierungen Lula und Rousseff waren, die Polizei und Staatsanwaltschaft die Mittel und die Unabhängigkeit gesichert hatten, um gegen die Mächtigen vorzugehen.

Ob dieser Elan unter der Regierung Temer anhält, ist fraglich. Anführer der von Korruptionsvorwürfen betroffenen Parteien basteln im Kongress bereits diskret an einer Amnestie für alle betroffenen Politiker. Davon würde vor allem die Regierung Temer profitieren - auch gegen den Präsidenten und mehrere einflussreiche Politiker der Regierung wird wegen Korruptionsvorwürfen ermittelt.

Historiker werden einmal beurteilen, was in diesen Tagen in Brasilien geschehen ist. Dilma Rousseff wird sicherlich nicht als eine große Präsidentin in die Geschichte eingehen. Aber als eine ehrliche, aufrechte Frau, die das Beste für ihr Land wollte und von einer weitgehend korrupten und reformunfähigen politischen Klasse zu Unrecht aus dem Amt gejagt wurde.

Quelle : spiegel.de

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