Einstellungen wie diese sind brandgefährlich, wie die jüngsten Attacken in Bautzen oder Dresden wieder gezeigt haben.
Deshalb ist es wichtig, dass wir uns immer wieder daran erinnern, wozu Rassismus, Xenophobie und Demokratieverachtung am Ende führen können. Unsere Demokratie, unser Rechtsstaat, unsere Meinungsfreiheit und unser Pluralismus sind keine Selbstverständlichkeit. Sie erfordern jeden Tag den Einsatz möglichst vieler Bürger, die im politischen und gesellschaftlichen Diskurs mitdenken, mitreden, mitdiskutieren.
Und es braucht ein Verständnis der Geschichte. Deshalb ist es außerdem wichtig, dass wir uns heute an den 29. und 30. September 1941 erinnern. An diesen beiden Tagen erschossen SS-Männer der Einsatzgruppe C und Ordnungspolizisten in der Schlucht von Babi Jar am Stadtrand von Kiew 33.771 jüdische Männer, Frauen und Kinder. Die Wehrmacht unterstützte den Massenmord.
"Babi Jar demonstrierte zusammen mit dem Massaker von Kamenez-Podolsk einige Wochen zuvor, dass die `Endlösung` das Ausmaß annehmen konnte, das wir heute den Holocaust nennen", sagt der amerikanische Historiker Timothy Snyder im Interview mit SPIEGEL ONLINE. Er kommt zu dem Schluss: "Was wir heute als Zivilisation erfahren, ist viel fragiler, als wir denken. Mir ist nicht klar, warum wir heute vor Massenmord eher gefeit sein sollten als die Menschen in den Dreißigerjahren."
In seinem meisterhaften Buch "Bloodlands" hat Snyder das Massaker von Babi Jar beschrieben:
Eine Wehrmachtspropagandaeinheit druckte Plakate, die den Juden befahlen, bei Todesstrafe an einer Straßenecke in einem westlichen Bezirk von Kiew zu erscheinen. Man erzählte den Juden die Lüge, sie würden umgesiedelt, was zur Regel bei solchen Massenerschießungen wurde, und sollten ihre Dokumente, Geld und Wertsachen mitbringen. Am 29. September erschienen tatsächlich die meisten der noch in Kiew verblieben Juden am ausgewiesenen Ort. Einige sagten sich, da am folgenden Tag Jom Kippur sei, der höchste jüdische Feiertag, könne ihnen nichts geschehen. Viele erschienen vor Sonnenaufgang in der Hoffnung, gute Plätze im Umsiedlungszug zu bekommen, doch der existierte nicht. Die Menschen packten für eine lange Reise, alte Frauen trugen Zwiebelketten um den Hals. Nach dem Sammeln gingen über 30.000 Menschen wie befohlen durch die Melnyk-Straße zum jüdischen Friedhof. Augenzeugen sahen aus ihren Wohnungen einen "endlosen Zug", der "die ganze Straße und Gehsteige füllte".
Nahe dem Tor zum jüdischen Friedhof hatten die Deutschen einen Kontrollpunkt eingerichtet, wo die Dokumente geprüft und Nichtjuden weggeschickt wurden. Von diesem Punkt an wurden die Juden von Deutschen mit Maschinenpistolen und Hunden eskortiert. Spätestens am Kontrollpunkt müssen viele Juden sich gefragt haben, was ihr wahres Schicksal sein würde. (... )
Nachdem sie ihre Wertsachen und Dokumente abgegeben hatten, mussten die Menschen sich ausziehen, dann wurden sie mit Drohungen oder Warenschüssen in Zehnergruppen an den Rand einer Schlucht namens Babi Jar getrieben. Viele wurden geschlagen.
Dina Pronitschewa, die das Massaker überlebte (mehr dazu hier), erinnerte sich, dass Menschen "schon bluteten, bevor sie erschossen wurden".
Sie mussten sich bäuchlings auf die Leichen der schon Ermordeten legen und auf die Schüsse warten, die von oben kamen. Dann kam die nächste Gruppe. 36 Stunden lang kamen Juden und starben. Vielleicht waren die Menschen im Sterben und im Tod gleich, aber jeder war anders bis zum letzten Moment, jeder hatte andere Gedanken und Vorahnungen, bis alles klar war, und dann wurde alles schwarz. Manche Menschen starben mit dem Gedanken an andere, wie die Mutter der schönen fünfzehnjährigen Sara, die bat, gemeinsam mit ihrer Tochter erschossen zu werden. Hier war selbst zum Schluss noch eine Sorge: Wenn sie sah, wie ihre Tochter erschossen wurde, würde sie nicht sehen, wie sie vergewaltigt wurde. Eine nackte Mutter verbrachte ihre letzten Augenblicke damit, ihrem Säugling die Brust zu geben. Als das Baby lebendig in die Schlucht geworfen wurde, sprang sie hinterher.
Das Grauen muss uns Mahnung sein, die Opfer müssen uns Mahnung sein. Indem wir ihre Namen lesen, können wir die Erinnerung wachhalten und uns die Lehren der Geschichte vergegenwärtigen.
Es sind Namen wie diese:
Moshe Aizenshtok, 14, Schüler
Yankel Averbukh, 54, Buchhalter
Ionya Barkan, 10, Schüler
Rakhil Batashev, geboren 1900, Hausfrau
Gershel Belogolovski, Alter unbekannt, Schneider
Sonia Berenbein, 22, Näherin
Gitel Berenshtein, 50, Arbeiterin
Natan Berenshtein, Alter unbekannt, Buchhalter
Khaia Berman, 14, Schülerin
Moisei Blankman, 75, Buchhalter
Malka Blankman, 58, Fotografin
Isrulik/Yisrael Blyakher, 36, Arbeiter
Yevgenia Boidyk, 34, Lehrerin
Sofia Boltiansky, 73, Hausfrau
Abram Borisov, 58, Angestellter
Noyakh/Noakh Borodyanski, 56, Zimmermann
Ben Braginski, geboren 1908, Ingenieur
Beba Braginski, 34, Ingenieurin
Maia Broide, 48, Hausfrau
Khana Bronshtein, geboren 1902, Buchhalterin
Grigori Bronshtein, geboren 1931, Schüler
Yosef Brozer, 58, Lieferant
Riva Chernyavski, 51, Hausfrau
Tania Cholupko, 13, Schülerin
Mordka Chudnovski, 63, Arbeiter
Samuil Donin, geboren 1875, Sanitärtechniker
Shmuel Donin, 66, Metallarbeiter
Yankel Donskoy, 60, Arbeiter
Ester Dubovski, 75, Hausfrau
David Dudchin, geboren 1905, Arzt
Musya Dudchina, geboren 1910, Ärztin
Emilya/Emilia Edelman, 20, Studentin
Izrail Epshtein, Alter unbekannt, Handwerker
Ilya Feldman, 69, Schneider
Riva Feldman, 41, Arbeiterin
Sylka Fidman, Alter unbekannt, Hausfrau
Yankel Fidman, 60, Zimmermann
Tuba Fishman, 56, Hausfrau
Basia Fleishmakher, 49, Hausfrau
Mania Freidinov, 40, Kassiererin
Izrail Freidinov, 75, Pensionär
Avraham Galant, 75, Bäcker
Yevgenia Gelman, 42, Buchhalterin
Yevsei Gelman, 46, Ingenieur
Leib Gershovitz, geboren 1926, Schüler
Dora Gilman, 48, Hausfrau
Minikha Gilshtein, 40, Bibliothekarin
Samuil/Samuel/Shmul Glikin, 63, Maler
Fenia/Fania Goldin, 31, Arbeiterin
Itzia Gomelski, 50, Schneider
Mania Gorenshtein, 24, Hausfrau
Yelizaveta Grinberg, 41, Hausfrau
Sabina Grinfeld, 84, Hausfrau
Petr Guberman, 60, Schneider
Sara Gurevich, 55, Buchhalterin
Leib Ievdasin, geboren 1876, Schneider
Gersh Indenbaum, 76, Angstellter
Frania Kagan, 40, Hausfrau
Fanya Kagan, 44, Hausfrau
Isaak Kagan, 50, Verkäufer
Abram Kaganovich, Alter unbekannt, Arbeiter
Rakhil Kaganovich, geboren 1903, Hausfrau
Basia Kagarlitzki, 47, Angstellte
Mykhl Katz, 50, Schuster
Mikhail/Mikhael Katzovski, 11, Schüler
Ester Keselman, 50, Hausfrau
Moshe Kleiner, 55, Lehrer
Reizl Koire, 32, Näherin
Yitzkhak Kordysh, 28, Biologe
Kheizor Kordysh, 58, Förster
Aharon Korogodski, Alter unbekannt, Geschäftsmann
Rakhil Kosachevskaya, 69, Hausfrau
Moisei Kritzberg, 68, Rentner
Sofia Kushnerova, 60, Hausfrau
Rakhil Kushnirovich, 85, Hausfrau
Borukh Kutman, 78, Verkäufer
Yuzik/Iuzik Zus Kuzminski, 14, Schüler
Liza Kuzminski, 16, Schülerin
Khana Lazareva, 56, Angestellte
Berta Leher, 41, Hausfrau
Boris Leher, 16, Schüler
Moisei Lerman, 48, Arbeiter
Leib Khaim Lev, 71, Makler
Rukhl Litvinov, 40, Schneider
Ester Lozinski, 30, Bilanzbuchhalterin
Golda Lyakhovetzki, 63, Dienstmädchen
Pinkhas Malamed, 73, Kaufmann
Sara Malykin, 25, Angestellte
David Margolin, 12, Schüler
Fanya Matusov, 23, Angestellte
Shalom Matusov, 54, Uhrenmacher
Zelda Matveyev, 29, Chemikerin
Sofia Medvedovski, Alter unbekannt, Ärztin
Khaia Menis, 70, Hausfrau
Tzetzilia Merlis, 68, Hausfrau
Yosef Mestechkin, 69, Angestellte
Sasha Mezhvinski, 9, Schüler
Yelizaveta Mitnitzki, 41, Hausfrau
Slava Mitnitzki, 10, Schülerin
Grigori Mogilevski, 38, Fuhrmann
Khasya Naroditzki, 16, Schülerin
Rakhil Nemirovski, 56, Hausfrau
Rakhil Novak, 27, Arbeiterin
Miriam Nudelman, 59, Hausfrau
Shimon Nudelman, 61, Lehrer
Misha Okun, geboren 1928, Schüler
Feiga Ostrovskaya, 41, Buchhalterin
Aaron Ostrovski, 62, Zimmermann
Gitia Palti, 37, Hausfrau
Polina Pekar, 24, Arbeiterin
Feiga Pikovski, 14, Schülerin
Esfir Pines, 55, Hausfrau
Pinkhas Polyak, 64, Buchhalter
Minikha Polyak, 36, Metallarbeiterin
Beila Khaia Portnoi, 55, Buchhalterin
Bluma Portnoi, 37, Näherin
Simkha Pud, 45, Buchhalter
Semion Raykhlin, 62, Schuster
Fania Razumovski, 70, Pensionärin
Pyotr Razumovski, 75, Pensionär
Izya Reznik, 13, Schüler
Rakhil Rozenberg, 43, Ärztin
Punya/Punia Rozenberg, 16, Schüler
Breindle Rozenzaft, 58, Hausfrau
Sara Rudaia, 28, Arbeiterin
Yerukhim Rutitzki, 59, Buchhalter
Vulf Sakhnovski, 54, Verkäufer
Srul Sandler, 70, Arbeiter
Grisha Sher, 10, Schüler
Liubov Shevtzovich, 44, Hausfrau
Elka Shifrin, 38, Näherin
Feiga Sheina Shifrin, 65, Hausfrau
Liuba Shknevskaya, 25, Lehrerin
Boris Shoikhet, Alter unbekannt, Pensionär
Avrum Elya/Avraham Alia Shpigelman, 50, Arbeiter
Yefim Shtekelman, Alter unbekannt, Chemiker
Polina Shuster, 56, Näherin
Fania Shvartzvald, 75, Hausfrau
Lia Shvartzvald, 53, Sanitäterin
Ester Shvetz, 35, Buchhalterin
Tzesia Sinelnikov, 55, Schneiderin
Moisei/Moshe Slutzki, 16, Schüler
Malka Smertenko, 16, Schülerin
Brana Sokol, geboren 1910, Fabrikarbeiterin
Mintzia Sokol, 31, Hausfrau
Perez/Peretz Sokol, geboren 1865, Schneider
Mintza Sokol, geboren 1908, Textilarbeiterin
Mordekhai Sova, 63, Kaufmann
Yakov Stolyarevski, 66, Schuster
Maria Szteinberg, 60, Hausfrau
Leib Tarnovski, 60, Klempner
Khasia Telfer, 42, Näherin
Liza Tolokunski, 46, Arbeiterin
Olga Tzeitlin, 79, Hausfrau
Gitl Tzetlin, 82, Hausfrau
Basya Tzibulsky, geboren 1923, Apothekerin
Rakhil Vaisberg, 51, Näherin
Khana Vaserman, 62, Hausfrau
Gersh Vinitzki, 66, Schuster
Izrail Vinnikov, geboren 1910, Arbeiter
Borokh Volfman, geboren 1879, Buchhalter
Rakhel Voloshin, 50, Hausfrau
Abram Yagolnitzer, 60, Fabrikdirektor
Basya Yanovski, 66, Hausfrau
Ester Yudkovski, 60, Angestellte
Klavdia Zamoshkin, Alter unbekannt, Lehrerin
Tatiana Zef, geboren 1874, Hausfrau
Mikhail Zhornitzki, 35, Bauarbeiter
Pesakh Zhornitzki, 71, Maler (Künstler)
Zlata Zlotnik, 53, Hausfrau
Bis heute sind nicht alle Namen der 33.771 Opfer von Babi Jar bekannt. Die deutschen Mörder registrierten zwar die Zahl der Ermordeten, aber nicht ihre Identitäten. Die internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel sammelt in einer Datenbank Namen und Lebensgeschichten von Holocaust-Opfern. Dort fließen neben unvollständigen Todeslisten auch "Gedenkblätter" ein, die Verwandte und Bekannte der Opfer, aber auch Holocaust-Überlebende als Zeugen der Ermordungen bis heute einreichen können. Doppelnennungen sind deswegen nicht ausgeschlossen. Auch das genaue Todesdatum ist oftmals nicht mehr zu klären. Nach Angaben von Yad Vashem sind bislang 4,5 Millionen ermordete Juden in der Datenbank erfasst. Zum Datenbank-Auszug über die Opfer von Babi Jar
Quelle : spiegel.de
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