Wie Kinder wirklich essen lernen

  05 Oktober 2016    Gelesen: 704
Wie Kinder wirklich essen lernen
Beginnen wir mit unserer kulinarischen Sozialisation: null Aromen, fad gewürzt, breiige Konsistenz. Und das ausgerechnet, nachdem wir mit sahniger, nach Vanille duftender, nährstoffreicher Muttermilch angefüttert wurden.
Das sogenannte Zufüttern vom 6. Lebensmonat an beginnt zwangsläufig mit Interessenkonflikten, beidseitigen, versteht sich. In den meisten Fällen liegen die Nerven blank. Entweder weil das Kleinkind seine Lippen tresorähnlich verschließt, während vor ihm der Plastiklöffel kreist wie ein Flugzeug im Holding über dem Frankfurter Flughafen. Oder weil das Gegenüber, sobald der Löffel im Mund des Kindes landet, sirenenartig aufheult, dabei Geräusche von sich gibt, die irgendwo zwischen Zahnweh und Magenverstimmung liegen – und dem Kind signalisieren sollen: iss weiter, das ist sooo lecker. Dabei ist dies alles vor allem eines: verwirrend! Wer einmal auf einem Spielplatz oder beim Kinderturnen auf der Bank gesessen hat, weiß um die Brisanz des Themas. Allein über die Form eines Plastiklöffels wird bisweilen derart erhitzt debattiert, als gelte es damit einen Design Award zu gewinnen. Und schließlich die entscheidende Frage, was kommt in die Schüssel?

Karotten- oder Griesbrei, Matschbananen oder Mangopüree? Beziehungsweise die noch entscheidendere Frage: was kommt alles nicht in die Schüssel: Gluten, Laktose, Fruktose, Dextrose.

Das Zufüttern ist ein Krisenherd, und das nicht erst seit Großeltern heimlich Laugenbrezeln und Wurst verteilen, damit der arme Enkel nicht vom Fleisch fällt. Das Kind muss eben etwas „Richtiges“ essen, wobei das Verständnis von „richtig“ je nach Generation etwas ganz anderes bedeutet. Bevor es allerdings zu Auseinandersetzungen wegen Pastinaken (Eltern) und Schinkennudeln (Großeltern) kommt, ist es höchste Zeit, auf die Gene zu schauen. Was uns schmeckt und was nicht, ist nämlich kein Zufall und auch nur bedingt eine Frage des Angebots.

Haben „picky eater“ einfach nur Superschmecker-Gene?

Vielmehr spielt die Beschaffenheit der Zunge eine Schlüsselrolle. Dort befinden sich schließlich die Zungenpapillen in denen die Geschmacksknospen sitzen, die wiederum voller Geschmacksrezeptoren für die einzelnen gustatorischen Qualitäten süß, sauer, bitter, salzig und umami (herzhaft) sind. Und jetzt aufgepasst! Wer über besonders viele dieser Zungenpapillen verfügt, ist ein Superschmecker, jemand, der extrem empfindlich auf Geschmacksreize reagiert. Immerhin ist das bei jedem vierten Menschen der Fall. Die Geschmacksforscherin Linda Bartoshuk, die ihre Entdeckung bereits im Jahr 1993 machte, spricht von einer „neonfarbenen Nahrungsmittelwelt“, während die Welt der Normalschmecker eine „pastellfarbene“ sei. Für alle die derart sensibel auf Nahrungsreize reagieren, sind ungewürzte und milde Speisen (Stichwort „Beikost“) ein absoluter Glücksfall. Brokkoli und Artischocken, die von Natur aus viele Bitterstoffe enthalten, sind dagegen ein Graus. Es sei denn sie wurden so häufig probiert, dass schließlich Gewöhnung einsetzte. Der sogenannte „Mere Exposure Effekt“ sorgt nämlich dafür, dass ein Reiz verblasst, je häufiger wir ihm ausgesetzt sind. Den größten Fehler, den Eltern folglich begehen können, ist ein täglicher Wechsel des Angebots. Gut möglich, dass der Nachwuchs, nachdem er dreimal Karottenbrei von sich gewiesen hat, beim vierten Versuch vergnügt isst. Gleiches gilt für ein Kind, das nur „Nudeln ohne alles“ mag, es braucht doppelt so lange, bis es seine Vorsicht gegenüber neuen Geschmäckern überwunden hat, weil es möglicherweise ein Superschmecker ist. Das Gegenteil ist übrigens beim Nichtschmecker der Fall. Der vermeintliche „gute Esser“ könnte schlichtweg von Natur aus über sehr wenige Zungenpapillen verfügen und deshalb nach einem hohen Maß an sensorischer Stimulation verlangen. Nichtschmecker, das sind immerhin fünfundzwanzig Prozent der Bevölkerung, sind im späteren Leben besonders anfällig für industriell verarbeitete, das heißt extrem süße, salzige oder würzige Nahrung. Pure, das heißt unverarbeitete Lebensmittel, erleben sie häufig als zu fad, weshalb der Griff zum Salzstreuer zur Gewohnheit wird und Süßspeisen ganz oben auf dem Speiseplan stehen.

Für die Genetikerin Sarah Tishkoff hat Geschmackssensibilität genetische Ursachen, sprich sie kann von den Eltern auf die Kinder vererbt werden. Sollte Ihnen also Espresso zu bitter, Grapefruit zu sauer und Buttercremetorte zu süß sein, dann sind Sie möglicherweise ein Superschmecker und sollten sich Ihrem Nachwuchs gegenüber großzügig zeigen. Schließlich sind nicht wenige Superschmecker im späteren Leben namhafte Restaurantkritiker, Köche oder Sommeliers geworden. Und damit ein Essen schmeckt, braucht es sowieso vor allem eines: eine entspannte Atmosphäre und Liebe.

Ach ja: Lassen Sie Ihr Kind entscheiden, wann es satt ist. Wer darauf besteht, dass der Teller leer gegessen werden muss, riskiert späteres Übergewicht, weil das Kind womöglich verlernt, auf eigene Körpersignale zu achten. Versuchen Sie es lieber mit einem großen weißen Teller. Dieselbe Portion auf einem bunten Kinderteller erscheint schlicht deutlich üppiger, als auf einem großen Teller, auf dem sie geradezu winzig anmutet.

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