Nach den Vorgängen in der Odenwaldschule ist die Elly-Heuss-Knapp-Schule ein weiteres Beispiel für gravierendes persönliches, schulisches und rechtsstaatliches Versagen über Jahre hinweg. „Heute übernehmen wir die institutionelle und moralische Verantwortung für das, was an Versäumnissen seitens der Institution Schule geschehen ist“, sagte Lösel, als er das „Dokument unsäglicher Taten“ aus den Händen von Tilmann und Burgsmüller entgegennahm, die beide zuvor schon den Bericht über die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule verfasst hatten.
Zerstörerische Verhalten des Lehrers
Zwischen beiden Tatorten stellten die Juristinnen Gemeinsamkeiten, aber auch einen wichtigen Unterschied fest: Während an der Odenwaldschule neben dem Ausmaß der sexuellen Übergriffe auch die Zahl der Täter festzustellen war, stand bei der Elly-Heuss-Knapp-Schule unzweifelhaft fest, dass nur der im Jahr 2008 verstorbene Lehrer Erich Buß sich an seinen Schülern vergangen hatte. Für sexuellen Missbrauch in 15 Fällen war Buß im Jahr 2005 vom Landgericht Darmstadt zu einer Mindeststrafe von vier Jahren verurteilt worden.
Das „zerstörerische Verhalten“ des Lehrers, wie es im Bericht heißt, lässt sich über Jahrzehnte zurückverfolgen. Aus den Aussagen ergibt sich, dass er zwischen 1961 und 1994 und in Einzelfällen sogar darüber hinaus an Kindern und Jugendlichen „pädosexuelle Handlungen“, wie es in seinem Tagebuch heißt, vorgenommen und viele seine Opfer über Jahre hinweg immer und immer wieder missbraucht hat. Sowohl diese Intensität als auch die Tatsache, dass einige Übergriffe in der Schule stattfanden, warfen für Tilmann und Burgsmüller als Mitglieder der vom Land eingesetzten unabhängigen Untersuchungskommission die Frage auf, wieso Buß als Einzeltäter so lange unbehelligt bleiben konnte. Ihre Antworten werfen ein Licht auf ein Ausmaß an Versagen, das erschrecken lässt.
Schüler, an denen sich der Lehrer vergangen hatte, haben immer wieder versucht, ihre Not mitzuteilen, und deshalb sowohl bei der Schulleiterin, Lehrern oder beim Schulamt vorgesprochen. Man habe sie dort aber zurückgewiesen und sei ihren Hinweisen nicht weiter nachgegangen, ebenso wenig wie den Hinweisen von Eltern.
Ermittlungsverfahren, die von Betroffenen 1989, 1997 und 2000 gegen Buß initiiert wurden, seien nach kürzester Bearbeitungsdauer wegen mangelnden Tatverdachts eingestellt worden. Das überhaupt 2002 ein Strafverfahren eingeleitet worden sei, gehe auf eine „kompetente und engagierte Kriminalbeamtin“ zurück. Die Staatsanwaltschaft selbst habe auch dann die Chance nicht ergriffen, umfassende Ermittlungen in Auftrag zu geben, und das Verfahren nach fast dreieinhalb Jahren für 15 Monate sogar zum Stillstand gebracht – eine „unerträgliche Wartezeit“, so die Autorinnen.
Was sind die Gründe für die „Wahrnehmungsblockaden“ in der Justiz und im Schulsystem? Mit Blick auf die Staatsanwaltschaft vermuten Tilmann und Burgsmüller, man habe sich gegenüber dem als engagiert und fortschrittlich auftretenden Pädagogen Buß nicht als „Ewiggestriger“ und in pädagogischen Fragen unbewanderter Jurist eine Blöße geben wollen. Bei Lehrern und Schulleitung wiederum habe die Angst um den guten Ruf der eigenen Einrichtung, Unkenntnis über Pädophilie und die „Beeinflussung durch den Zeitgeist der 68er Generation“ eine zentrale Rolle für das kollektive Versagen gespielt, für das sich Lösel im Namen seines Ministeriums im September förmlich entschuldigte.
Buß selbst hat als Täter mit großer krimineller Energie und äußerst zielstrebig gehandelt. Zu seinen Opfern hat er zunächst ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, indem er sich als Freund und Lebenshelfer darstellte. Zuweilen hat er Geld und Geschenke eingesetzt und seine Übergriffe als „pädagogischen Ansatz“ verbrämt. Auf diese Weise habe er versucht, „den sexuellen Missbrauch fest in den Alltag mit den Kindern zu integrieren“. Wenn sich jemand widersetzte, habe er ihm mit Gewalt und Drohungen geantwortet.
Die Kommission hat in ihrem Bericht eine Reihe von Empfehlungen formuliert: die Einsetzung eines Präventionsbeauftragten auf Landesebene und einer Fachberatungsstelle, die Entwicklung von Schutzkonzepten und die Auszahlung eines symbolischen Schmerzensgeldes in Höhe von 10000 Euro an alle Betroffenen sowie die Übernahme der Therapiekosten. Der Elly-Heuss-Knapp-Schule wurde geraten, die Rolle als „traumatisierte Institution“ einzunehmen und sich zu fragen, wie eine angemessene „Erinnerungskultur“ aussehen könne.
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