Nachdem er zurückgekehrt ist, berichtet Deveau seinem Kapitän David Morehouse, was er gesehen hat: Offene Luken, Chaos in der Küche, einen herausgerissenen Ofen, eine defekte Lenzpumpe - und überall Wasser. Im Kapitänsbett, in den Kajüten, auf den Decks - das ganze Schiff sei eine "einzige nasse Sauerei". Der Zweimaster hat 1700 Fässer mit Industriealkohol gelagert, sie scheinen jedoch nicht beschädigt. An Bord befinden sich zudem Nahrungsmittelvorräte für ein halbes Jahr.
Nur von der Besatzung fehlt jede Spur. Auch Rettungsboote werden nicht gefunden.
Das Schiff, das die "Dei Gratia" an diesem Wintertag sieht, heißt "Mary Celeste". Der Zweimastsegler, 31 Meter lang, 15 Segel, gebaut 1861 in Neuschottland (Kanada), war von Anfang an kein Glücksbringer. Der erste Kapitän, Robert McLellan, starb an einer Lungenentzündung - nur neun Tage nachdem er das Kommando auf der "Mary Celeste" übernommen hatte. Und auch ihren stetig wechselnden Eigentümern brachte sie wenig Profit. Ihr letzter hatte sie am 7. November 1872 von New York Richtung Genua geschickt, wo sie ihre Fracht löschen sollte. Doch die "Dei Gratia" findet das Schiff auf halber Strecke, zwischen den Azoren und Portugal. Was war mit der Besatzung passiert?
Fakten und Fiktion werden vermengt
Heute ranken sich viele Mythen um die "Mary Celeste", sie wurde zu einem der berühmtesten Geisterschiffe der Seefahrtsgeschichte. Es gibt mindestens zehn Theorien über das Verschwinden der Besatzung, und die wenigsten sind wissenschaftlich fundiert: Mal war ein Riesenkrake verantwortlich, dann Piraten. Forscher hielten ein Seebeben für möglich oder Sandbänke, die sich plötzlich auflösten. Der Schriftsteller Arthur Conan Doyle schrieb über das Geisterschiff, Filme wurden gedreht. Fakten und Fiktion wurden vermengt - und der Mythos der "Mary Celeste" immer größer.
Geschichten über Geisterschiffe wie die "Mary Celeste" sind so alt wie die Seefahrt - und immer schipperten die spukenden Kähne an der Grenze zwischen Seemannsgarn und Realität entlang. Schon im siebzehnten Jahrhundert machte die Sage vom "Fliegenden Holländer" die Runde. Darin verfluchte ein Kapitän erst den Sturm am Kap der Guten Hoffnung und dann auch noch Gott und die Welt. Zur Strafe für die Gotteslästerung musste der Kapitän bis in alle Ewigkeit über die Meere fahren - verdammt! Sogar der englische König George sichtete den "Fliegenden Holländer" und dessen blutige Segel angeblich. Richard Wagner machte eine Oper draus.
Auch die "Lady Lovibond" schaffte es, durch die Jahrhunderte zu segeln, obwohl der Schoner schon 1748 vor der britischen Küste havarierte. Doch seither tauchte die "Lady" angeblich alle 50 Jahre, pünktlich zum Jahrestag, in der berüchtigten Gegend der Goodwin Sands wieder auf. Auch der "Lady Lovibond" soll ein Verstoß gegen die Seemannsehre zum Verhängnis geworden sein. Kapitän Simon Peel nutzte sein Schiff für eine Hochzeitsreise mit seiner frisch Angetrauten - obwohl Frauen an Bord eigentlich Unglück bringen. Prompt meuchelte der Erste Maat, selbst verliebt in die Braut des Käpt`ns, den Steuermann und lenkte die "Lady" ins Verderben.
Gesunken, aufgetaucht - und weiter ging die Fahrt
Besonders mysteriös wirkte das, was der "Seeschwalbe" passierte. Der Schoner sank im Oktober 1921 in der Ostsee, die Besatzung wurde gerettet. Doch eine Woche später tauchte das Wrack plötzlich 100 Kilometer entfernt an der kurischen Nehrung wieder auf. Die "Seeschwalbe", ein Geisterschiff made in Germany, war irgendwie wieder an die Meeresoberfläche gekommen und hatte dann eine beachtliche Strecke zurückgelegt. Aber wie sollte das möglich gewesen sein?
Nachdem das Wrack untersucht worden war, fand sich für das Mysterium der "Seeschwalbe" schnell eine sehr irdische Erklärung: Beim Aufprall auf dem Meeresboden war der Holzrumpf aufgebrochen, hatte den Steinballast freigegeben und das Schiff war wieder aufgestiegen. Dann setzte der Schoner seine Fahrt fort.
Ein neuerer Fall ist der des Flugzeugträgers "Clemenceau", seit 1961 im Dienst der französischen Marine unterwegs. Er sollte 1997 von Schleppern nach Gijón gezogen und vor der spanischen Atlantikküste abgewrackt werden. Der Deal der Franzosen mit einer spanischen Werft sah vor, dass diese das Schiff auseinandernehmen und die 22.000 Tonnen Eisen verkaufen sollte. Im Gegenzug sollte das im Rumpf verbaute Asbest entsorgt werden.
Entzauberte Geisterschiffe
Doch nachdem die "Clem" am 13. Oktober ausgelaufen war, verschwand sie samt Schlepper. In Gijón kam sie nie an. Dafür fand man den Flugzeugträger später an der sizilianischen Ostküste wieder. Doch auch die Gründe für das Verschwinden der "Clemenceau" waren wenig übernatürlich: Die Spanier hatten ihren Auftraggeber gefoppt und den Abwrackjob an eine andere Werft abgegeben. Die hatte weniger scharfe Vorschriften bei der Asbestbeseitigung und war deutlich billiger.
Wie die "Seeschwalbe" oder die "Clemenceau" wurden die meisten vermeintlichen Geisterschiffe irgendwann entzaubert - oder zumindest realistische Theorien präsentiert. Das gilt für die Gruselikone Ourang Medan (siehe Bildergalerie) genauso wie für die "Mary Celeste".
Kapitän der "Mary Celeste" war der 37-jährige Benjamin Briggs. Der Mann aus Massachusetts hatte viel Erfahrung, mit 27 war er schon verantwortlich auf dem Dreimaster "Forest King" gewesen. Mit ihm an Bord waren der Erste Offizier Albert C. Richardson, der Zweite Offizier Andrew Gilling, der Koch Edward W. Head sowie vier Seemänner aus Deutschland. Kapitän Briggs hatte seine Kabine umbauen lassen, Ehefrau Sarah und die kleine Tochter Sophia begleiteten ihn nach Genua. Die zwei Passagiere sollten sich wohlfühlen.
Ein Rettunsboot mit fünf verwesten Leichen
Die Tour wurde für Familie Briggs und die Besatzung vermutlich zum tödlichen Trip, ihre Leichen wurden nie gefunden. Aber was hatte die Besatzung von Bord getrieben, und wohin? Zwar war im Frühjahr 1873 an der portugiesischen Küste ein Rettungsboot mit fünf stark verwesten Körpern angeschwemmt worden, darunter der eines kleinen Kindes. Und der "Dei Gratia"-Seemann Charles Lurd sagte 1873 bei dem anberaumten Seegerichtsverfahren in Gibraltar aus, dass kein Rettungsboot auf der "Mary Celeste" gefunden worden sei. Doch die Windverhältnisse im Atlantik hätten das Boot wohl nie an Portugals Küste treiben können.
Die "Mary Celeste" selbst war in gutem Zustand, als die "Dei Gratia" sie fand - und offenbar freiwillig verlassen worden. Ins Bild passte die Tatsache, dass weder Chronometer, Sextant oder Schiffspapiere an Bord gefunden wurden. Wetterarchive belegen für den Tag des Unglücks allerdings Stürme über den Azoren. Und warum sollten zehn Menschen, darunter ein kleines Mädchen, bei diesem Wetter in ein Rettungsboot steigen, wenn das Mutterschiff doch unversehrt war?
Bei der Entladung in Genua stellten sich neun der Alkoholfässer als leer heraus. Und genau das muss wohl die Ursache der Katastrophe gewesen sein, die sich am 24. November 1872 an Bord abspielte. Von diesem Tag stammte der letzte Eintrag ins Logbuch. Wenn sich die Fässer auf der "Mary Celeste" entleert hatten, könnte sich im Frachtraum ein explosives Gemisch gebildet haben, das durch eine Öffnung in die Kombüse geströmt und dort mit einer gewaltigen Druckwelle verpufft war.
Ein falsches Wrack?
Das würde nicht nur das Chaos in der Küche erklären - sondern auch die Flucht in ein Rettungsboot. Vielleicht fürchtete die Besatzung eine weitere Explosion oder wollte warten, bis der Frachtraum entlüftet war. Auch wenn die Explosion ausblieb - die Chance auf Überleben war für die panikartig ins Rettungsboot gekletterten Menschen gering. Sie konnten die voll unter Segel stehenden "Mary Celeste" in ihrem Ruderkahn nicht mehr einholen und trieben über den Atlantik.
Es ist die glaubwürdigste Theorie im Zusammenhang mit der "Mary Celeste", sie stammt von dem Hamburger Seefahrtsautor Eigel Wiese. In seinem 2001 erschienenen Buch "Das Geisterschiff. Die Geschichte der Mary Celeste" rekonstruiert Wiese die letzten Stunden an Bord und präsentiert mit der Verpuffung eine schlüssige Erklärung für die Katastrophe. Die BBC stellte zusammen mit Wiese die Verpuffungsexplosion des Alkohol-Luftgemisches 2004 in einem Experiment nach - und sah sich bis ins Detail bestätigt.
"Der erste, der die Theorie aufgestellt hatte, war der Eigentümer der `Mary Celeste`, James Winchester", sagt Wiese, "doch dem glaubte man nicht." Zu unglaubwürdig erschien den Ermittlern der Ansatz. Diese kannten im Zusammenhang mit Alkohol nur verheerende Schiffsunglücke, nicht aber einen nahezu unversehrten Segler. Wiese ist sich sicher, das Rätsel gelöst zu haben. Endgültig geklärt werden kann das Mysterium der "Mary Celeste" aber nicht mehr. Nicht nur von der Mannschaft, auch von dem Schiff, das 1885 angeblich vor einem Riff Haitis versenkt wurde, fehlt nämlich weiter jede Spur.
Denn das Wrack, das der Autor Clive Cussler 2001 vor der Küste Haitis gefunden und als "Mary Celeste" identifziert hatte, ist wohl doch nicht das Geisterschiff des Kapitän Briggs. Zumindest behauptet das Scott McGeorge von der Universität von Arizona. Der Forscher untersuchte die Holzbalken des Wracks und kam laut "Independent" 2008 zu dem Schluss, dass das Holz zu jung sei, um in der "Mary Celeste" verbaut worden zu sein.
Quelle : spiegel.de
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