Unbekannte Variable im Atomausstieg

  06 Dezember 2016    Gelesen: 1158
Unbekannte Variable im Atomausstieg
Die drei großen Energieversorger Eon, RWE und Vattenfall klagen gegen den übereilten Atomausstieg. Die Versorger wollen Entschädigung - am Dienstag entscheidet das Verfassungsgericht.
Tief erschüttert zeigte sich Bundesbauministerin Barbara Hendricks (SPD), als sie im Mai das Atomkraftwerk Fukushima besuchte. Sie wies seinerzeit auf die Risiken der Atomkraft hin - „bei uns in Deutschland ist Fukushima mit den Reaktorunfällen verbunden“ - und lobte den Mut der Menschen, die verwüstete Region wiederaufzubauen.

Über die Reaktionen der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung auf Fukushima im Frühjahr 2011 hat am Dienstag das Bundesverfassungsgericht zu urteilen. Dort klagen die drei großen Energieversorger Eon, RWE und Vattenfall gegen den übereilten Atomausstieg. Sie sehen sich durch das Atomausstiegsgesetz in ihren Eigentumsrechten verletzt und verlangen rund 19 Milliarden Euro Entschädigung (Az.: 1 BvR 2821/11, 1 BvR 321/12, 1 BvR 1456/12). ENBW zählt nicht zu den Klägern. Der öffentlich-rechtliche Energieversorger ist nicht grundrechtsfähig und versucht es derweil mit Klagen vor den Zivilgerichten.

Wohin die Verfassungsrichter tendieren, ist offen. Der Vizepräsident des Gerichts, Ferdinand Kirchhoff, hatte schon in der mündlichen Verhandlung im März auf mehrere Unwägbarkeiten des Verfahrens hingewiesen. So hat der Senat zu klären, ob die vorgezogene Abschaltung der Atommeiler und die gekürzten Reststrommengen eine Eigentumsverletzung darstellen. Denn ohne Genehmigungen verlieren die Anlagen für die Eigentümer an Wert. Zudem hatten Eon und Co. nach der Ende 2010 beschlossenen Laufzeitverlängerung erheblich investiert, etwa neue Brennelemente gekauft und Kraftwerke für den Weiterbetrieb ertüchtigt - dann kamen Fukushima und der Ausstiegsbeschluss.

Eon als größter Betreiberkonzern beziffert seinen Gesamtschaden auf 8 Milliarden Euro. RWE hat nie selbst eine Zahl genannt. Abgeleitet aus den Eon-Forderungen, ergäbe sich für den Essener Konzern eine Schadenhöhe von bis zu 6 Milliarden Euro. Vermutlich müssten Gutachter heran, anschließend wäre es an der Bundesregierung, die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen, zum Beispiel in Form eines Entschädigungsgesetzes. Denn das Verfassungsgericht entscheidet ja nur über die grundsätzliche Frage, ob überhaupt ein Entschädigungsanspruch besteht, nicht aber über dessen Höhe.

Laut Juristen gibt es eine Reihe von Entscheidungsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Rechtsfolgen. So meint Energierechtler Peter Rosin von der Kanzlei White & Case, dass der Ausgang der Klagen offen ist: „Für die Kraftwerksbetreiber dürfte es auch als Erfolg zu bewerten sein, wenn das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis kommen sollte, dass es sich zwar nicht um eine Enteignung handelt, jedoch um eine Inhalts- und Schrankenbestimmung, die eine Entschädigungspflicht auslöst.“

Nur zu den Erfolgsaussichten der Klage von Vattenfall zeichnet sich ein Konsens unter Anwälten ab. „Es würde uns überraschen, wenn sich Vattenfall als schwedischer Staatskonzern erfolgreich auf deutsche Grundrechte berufen könnte“, spricht Rosin aus, was viele denken. Daneben hat Vattenfall vor einem privaten Schiedsgericht in Washington Deutschland auf Schadenersatz von 4,7 Milliarden Euro verklagt. Mit einer Entscheidung wird für die zweite Jahreshälfte 2017 gerechnet.

Die Atomkonzerne halten sich bedeckt und wollen dem Urteil am Dienstag nicht vorgreifen. Weder RWE noch Eon waren zu einer Einschätzung bereit. Hendricks dagegen will die Entscheidung in Ruhe abwarten: „In der mündlichen Verhandlung hat die Bundesregierung deutlich gemacht, dass der Atomausstieg nach Fukushima verfassungskonform ist. Daran halten wir fest und sehen dem Urteil gelassen entgegen“, sagte die Ministerin vergangene Woche in Berlin.

Für den Fall, dass die Verfassungsrichter tatsächlich einen Anspruch der Konzerne bestätigen, könnte dies in die laufenden Verhandlungen über den Fonds für die Zwischen- und Endlagerung von Nuklearabfällen einfließen. Nach den Empfehlungen der Kernenergie-Kommission (KfK) sollen die Atomkonzerne aus ihren für die Atommüllbeseitigung gebildeten Rückstellungen 17,2 Milliarden Euro in einen öffentlich-rechtlichen Fonds bezahlen. Durch einen zusätzlichen Risikoaufschlag von insgesamt 6,1 Milliarden könnten sich die Betreiber von einer späteren Nachhaftung freikaufen. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) will diese Vereinbarung im ersten Quartal 2017 in ein Gesetz gießen. Zusätzlich pochen die Betreiberunternehmen auf einen Vertrag mit der Bundesregierung, der ihnen Rechtssicherheit gibt. Sollte das Verfassungsgericht eine Entschädigung bejahen, ist es naheliegend, die vertraglichen Zahlungspflichten mit einem Schadenersatz zu verrechnen. Die Verfassungsklagen waren schon während der KfK-Verhandlungen thematisiert worden: Als Voraussetzung für eine Haftungsbefreiung der Atomkonzerne hatten einige KfK-Mitglieder auch die Rücknahme der Beschwerden ins Gespräch gebracht.

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Diese Forderung war aber schnell vom Tisch. In den Verhandlungen über einen Vertrag für die Fondslösung geht es jetzt nur noch darum, was aus den entsorgungsrechtlichen Klagen, etwa über die Vorausleistungen für das Atomlager in Gorleben, wird. Im Rahmen eines Vertrages erwartet die Bundesregierung eine vollständige Klärung dieser Fragen.


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