Wie eine Journalistin aus Afghanistan jetzt Deutschland erlebt

  23 Dezember 2016    Gelesen: 842
Wie eine Journalistin aus Afghanistan jetzt Deutschland erlebt
Sie lebte in der afghanischen Hauptstadt Kabul, bevor sie vor dem Terror floh. In Deutschland hoffte Nesrin A. auf Sicherheit - doch die Angst blieb. Mit dem Anschlag verändert sich das Land, sagt sie.
Nesrin A.* ist 29 und weiß, wie es ist, wenn die Angst vor Terror den Alltag bestimmt: Sie lebte zwölf Jahre in Afghanistan, davon sieben Jahre in der Haupstadt Kabul.

Mit der Flucht nach Deutschland hoffte die freie Journalistin auf ein Leben ohne Angst. Doch nicht erst die Anschläge in Berlin haben sie vorsichtiger werden lassen, wenn sie auf die Straße geht, die Erfahrungen aus der Vergangenheit lassen sie nicht los.

"Ich habe sieben Jahre in Kabul gewohnt. Und täglich plagte mich Angst davor, dass sich ein Attentäter in meiner Nähe in die Luft sprengt. Dass ein Fanatiker um sich schießt. Dass eine Bombe explodiert. In der afghanischen Hauptstadt passiert das immer wieder. Wer dort lebt, kann den Terror nicht ausblenden.

Als Mitarbeiterin von Menschenrechtsorganisationen, als Partnerin von westlichen Botschaften lebte ich ohnehin gefährlich. Wenn ich etwa zur US-Botschaft gefahren bin, hat mich ein Dienstwagen abgeholt - drei Straßen von meiner Wohnung entfernt. Dorthin bin ich gelaufen, denn ich wollte nicht, dass Nachbarn mitkriegen, wo ich arbeite.

Vor zwei Jahren kam ich nach Deutschland in der Hoffnung, freier leben und arbeiten zu können. Frei von Angst. Doch ich werde sie nicht los. Ich weiß, dass die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Anschlags zu werden, hier sehr gering ist. Dennoch gab es auch in Europa mehrere islamistische Terrorakte, seit ich hier bin.

Beim Attentat auf "Charlie Hebdo" in Paris wurde der Freund einer guten Bekannten erschossen. Im Fernsehen habe ich die Anschläge von Nizza und Berlin verfolgt. All das gibt mir das Gefühl: Hier kann genau das Gleiche passieren wie in Afghanistan. Natürlich weiß ich, dass ich in meiner Wohnung sicher bin und dem Staat und der Polizei vertrauen kann. Das ist ein großer Unterschied, dafür bin ich dankbar.

In Afghanistan haben Menschen mich bedroht wegen meiner Arbeit. Dort hat fast jeder Haushalt Waffen, eine Kalaschnikow zum Beispiel, Pistolen. Polizisten sind oft korrupt und helfen einem nicht. Und man kann nicht wissen, ob sie den Taliban angehören.

Ich habe immer darauf geachtet, wie die Menschen auf der Straße aussahen, die neben mir gingen. Waren sie nervös? Trugen sie Rucksäcke? Wo hatten sie ihre Hände? Auch bei Kollegen war ich vorsichtig. Ich kannte ihre religiösen Gedanken nicht. Vielleicht gehörten Sie zum IS oder zu den Taliban.

Immer wenn ich begann, in einem neuen Büro zu arbeiten, habe ich zuerst die Fluchtwege ausfindig gemacht. Wohin muss ich laufen, wenn es einen Anschlag gibt? Wie komme ich schnell raus, in welche Richtung sollte ich gehen, wenn ich das Büro verlassen muss?

Wichtig waren auch flache und praktische Schuhe. Ich trage privat gern hohe Absätze, aber sie behindern einen, wenn man schnell laufen muss.

Einmal bin ich mit meiner Schwester durch ein Viertel von Kabul gegangen, und wir warteten auf ein Taxi. Da sahen wir, dass in einem Wagen der Beifahrer nervös auf dem Sitz zappelte. Ich habe meine Schwester an die Hand genommen, und wir sind weggerannt. Später haben wir gehört, dass ein paar Blocks weiter ein Taxi in ein Haus gefahren ist. Dann hat ein Mann eine Bombe gezündet. Der Täter muss der Beifahrer gewesen sein, den wir gesehen hatten.

Auf den Straßen von Kabul ist man immer hoch konzentriert. Als ich einmal in einem Stau stand, war vor uns ein Fahrzeug der Isaf-Truppen, der ausländischen Streitkräfte, die in Afghanistan im Einsatz waren. Plötzlich lief ein Mann auf das Auto zu. Ich habe die Tür unseres Wagens aufgerissen und ganz laut geschrien: "Alle weglaufen."

Ich selbst aber war so geschockt, dass ich nicht aussteigen konnte. Zum Glück war es falscher Alarm. Der Mann war geistig verwirrt, es gab keine Bombe.

Nach meiner Wahrnehmung verändern die jüngsten Anschläge Deutschland. Einige Menschen werden vorsichtiger, einige wütender. Manche machen nun Flüchtlinge und Muslime verantwortlich.

In der U-Bahn merkt man häufiger als früher, dass die Leute sich umdrehen und schauen, ob sie etwas Auffälliges bemerken. Auch ich mache das. Schon vor dem Anschlag von Berlin habe ich Weihnachtsmärkte gemieden. An Silvester feiere ich nicht dort, wo Menschenmassen sind.

Ich hoffe, dass die Terrorgefahr möglichst bald vorbei ist. Sie verstärkt Feindseligkeit. Viele Flüchtlinge haben Angst vor Ablehnung in Deutschland. Wir müssen mehr miteinander sprechen, mehr aufeinander zugehen, um eine politische Krise zu verhindern. Um die Angst zu besiegen."

Quelle : spiegel.de

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