"Mir blieb die Luft weg", erinnert sich Jörn-Ulrich Brödel und die Fassungslosigkeit lässt seine Stimme noch Jahrzehnte später beben. "Der erste tot, der zweite tot, der dritte tot." Brödel hat mit den Fingern mitgezählt, jetzt verharrt seine Hand hilflos in der Luft. "Ich habe gedacht: Das geht jetzt so weiter."
14. September 1950, Urteilsverkündung gegen 15 Angeklagte vor dem sowjetischen Militärtribunal in Weimar. Alles war perfekt arrangiert am Ende dieses Willkürprozesses ohne Verteidiger. "Wir wurden streng darauf hingewiesen, auf welchem Platz in den beiden Stuhlreihen wir zu sitzen hatten", erzählt Brödel. Damals wunderte er sich. Später verstand er: "Die Urteile standen schon vorher fest."
Wer vorne saß, hatte schlechte Karten. Brödel saß auf dem sechsten Platz in der ersten Reihe. Nur zwei Stühle neben ihm war soeben sein Freund Hans-Joachim Näther zum Tode verurteilt worden. Dessen Gesichtsausdruck vergaß er nie: "Achim grinste leise vor sich hin. Als ob er sagen würde: Ihr könnt machen, was ihr wollt, ich stehe über euch!"
"Das bin ich den Toten schuldig"
Brödel war nicht so fatalistisch. Starr vor Schock bangte er um sein Leben. Er dachte daran, dass Stalin die Todesstrafe 1947 mit propagandistischem Getöse abgeschafft hatte; die UdSSR wollte sich human geben. Er wusste nicht, dass Stalin die Todesstrafe 1950 heimlich wieder eingeführt hatte. Was war hier los?
Urteil Nummer vier und fünf: je 25 Jahre Arbeitslager. Brödel schöpfte Hoffnung. Offenbar waren die Urteile geordnet. Dann sein Verdikt: ebenfalls 25 Jahre wegen "antisowjetischer Propaganda" und "Bildung einer illegalen Gruppe". Erleichterung. Er hatte überlebt.
Jörn-Ulrich Brödel, 85, ist der letzte Zeitzeuge einer bis heute kaum bekannten Widerstandsgruppe aus dem thüringischen Altenburg. Wenig an diesem schmächtigen, freundlichen Mann erinnert zunächst an einen verwegenen Aufrührer. Wer Brödel in seiner Hamburger Wohnung besucht, atmet deutsche Gemütlichkeit ein. Bierkrüge mit Zinndeckel hängen über der Durchreiche zur Küche; Brödel hat lange bei Holsten gearbeitet. Im Wohnzimmer baumelt ein Planeten-Mobilé von der Decke. Die Wände zieren Fotos der Tochter und von Hunden. Auf dem Boden schnarcht Sina, mit zwölf Hundejahren betagt wie ihr Herrchen.
Sobald Brödel aber von seinem Kampf mit der SED-Diktatur erzählt, klingt er nicht altersmilde. Die Empörung ist geblieben, und er will nicht, dass das Unrecht vergessen wird: "Das bin ich meinen toten Freunden schuldig."
Gegen das Schweigen der Eltern
Besonders Achim Näther, den er einst in die Widerstandsgruppe gelotst hatte. Aufgefallen war ihm Näther durch eine Aktion im Unterricht. 1949 hatte dieser zum Entwurf der DDR-Verfassung erklärt, er habe alles mit dem Rotstift markiert, was derzeit nicht eingehalten werde, Pressefreiheit etwa. Der Text war fast komplett rot.
Näther wurde der intellektuelle Kopf der Gruppe. Sie waren 17-, 18-jährige Schüler, denen die NS-Zeit noch frisch in Erinnerung war und die sich jetzt plötzlich wieder politisch indoktriniert fühlten. Ihre Eltern aber schwiegen.
"Wir haben nächtelang diskutiert und waren uns einig, dass wir etwas unternehmen mussten, sonst würden wir uns mitschuldig machen", sagt Brödel. Schnell waren sie sich einig: Kritik am System ja - aber keine Sabotage, Spionage, Gewalt.
Blieben Flugblätter. Nur hatten die Jugendlichen keinen Zugang zu Schreibmaschinen und Durchschlagpapier. Deshalb warfen sie anfangs Zettel in Briefkästen, auf denen nur ein Buchstabe stand: "F". Jeder verstand, dass damit die Mangelware Nummer eins gemeint war: Freiheit. Einmal mischten sie nachts mit geklauten Chemikalien aus dem Schullabor klebrige Farbe zusammen. Am nächsten Morgen prangten drei metergroße, grüne "F"s an den Fenstern der Altenburger SED-Kreisleitung.
Unterstützung holten sie sich von der Berliner "Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit", die in der Hauptstadt "F"-Zettel verbreitete. Die Berliner halfen ihnen, auch längere Flugblätter zu drucken. Parallel gründete sich in Altenburg noch eine Widerstandsgruppe junger Lehrer, zu einigen Aktionen tat man sich zusammen.
Dann aber hatte Brödel eine viel radikalere Idee: Warum nicht einen Piratensender bauen und in eine SED-Propagandasendung funken? Würde man so nicht viel mehr Menschen erreichen? Brödel hatte so einen Sender in der NS-Zeit gehört, "das hat mich beeindruckt".
"Massenmörder!"
Für den tollkühnen Plan sprach, dass einer ihrer Aktivisten Funkamateur war: Gerhard Schmale hatte die Schule bereits verlassen und machte eine KFZ-Lehre. Und er wusste, wo er die notwendige Technik herbekommen könnte: vom nahe gelegenen Flugplatz in Nobitz, wo seit 1945 Maschinen samt Funkgeräten vor sich hin gammelten. Als Mikrofon sollte ein abgesägter Telefonhörer dienen.
Monatelang tüftelte Schmale an dem Sender, der sich für den Fall einer Flucht schnell zerlegen lassen sollte. Dann ergab sich die Gelegenheit: Am 20. Dezember 1949, dem Vorabend von Stalins 70. Geburtstag, würde das ganze Land der Festrede von DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck im Radio folgen. Das war die Chance!
Brödels Elternhaus, günstig auf einer Anhöhe gelegen, wurde zum Sender. Der Vater war verreist, der Stiefmutter gaukelten sie vor, für Physik zu pauken. Die Schüler spannten eine Antenne zwischen zwei Schornsteinen und begaben sich auf ihre Posten: Schmale bediente die Technik. Näther sollte reden. Brödel stand vor dem Haus Schmiere. Sollte etwas passieren, würde er sich eine Zigarette anzünden. Auf dieses Warnsignal sollte der vierte Aktivist, Ulf Uhlig, am Fenster der Wohnung im zweiten Stock achten.
20 Uhr. Pieck redete. Schmale sendete ein Störsignal. Dann sprach Näther: "Stalin ist ein Massenmörder", rief er, und: "Wieder sterben Zehntausende in KZs!" Zwischen solchen Parolen las er aus Arthur Koestler "Sonnenfinsternis", einer Abrechnung mit dem Kommunismus.
Unten starrte Brödel in die Nacht. Eine Stunde passierte nichts. "Doch plötzlich fuhr ein russischer Kastenwagen sehr langsam die Anhöhe hoch." Hinten am Wagen erkannte er eine lange Stange. Eine Antenne? Hatte man sie geortet? "Ich bekam das Flattern", erzählt Brödel. Hektisch zündete er sich die Zigarette an und hoffte, "dass die da oben rechtzeitig Schluss machen".
Uhlig sah das Glimmen. Sofort packten die drei den Sender in ihre Rucksäcke und rannten davon.
In den Tagen danach: lähmende Ungewissheit. Hatte der Sender funktioniert? Ein Freund aus Leipzig hatte die Parolen gehört. Aber der Geheimdienst auch? Aktenbelege dafür hat auch der Historiker Enrico Heitzer nicht gefunden, der eine Studie über den "jugendlichen Widerstand in Altenburg" geschrieben hat; nur die Flugblatt-Aktionen der Gruppe sind demnach dokumentiert.
Aufgeflogen
Monate blieb alles ruhig. Die Schüler lernten brav fürs Abi. Doch dann begegnete Brödel am 24. März 1950 auf dem Weg zur Schule Ulf Uhlig, begleitet von zwei Männern. Sein Freund sah ihn und riss die Augen weit auf.
Brödel verstand. Es war aus. Deshalb also war Näther am Tag zuvor nicht in der Schule gewesen! Brödel wollte nachts fliehen, aber zögerte zu lange. Die Tasche war schon gepackt, als gegen 23 Uhr Uniformierte das Haus stürmten, alles durchsuchten und ihn in die Zentrale des K5 brachten, einer Vorläuferorganisation der Stasi. Es folgten nächtliche Verhöre, Schlafentzug, Psychoterror. "Nach 14 Tagen gibt man alles zu, egal ob es stimmt."
Einmal noch sahen sich die Freunde, kahlrasiert und schweigend in U-Haft. Nicht nur die Schülergruppe war aufgeflogen, sondern auch die Widerstandsgruppe der Lehrer, die nichts von dem Piratensender wussten, den der Geheimdienst inzwischen gefunden hatte. Verurteilt wurden Lehrer und Schüler gemeinsam: Zwei Todesurteile für die Lehrer Wolfgang Ostermann und Siegfried Flack, eines für den Schüler Näther. Ludwig Hayne, ein Freund Brödels, war noch auf der Flucht. Er wurde später verhaftet und zum Tode verurteilt.
Warnung vor dem Hass
Brödel hatte Glück. Und einen feinen Humor, der ihm die Zeit im Stasi-Knast Bautzen erträglicher machte. Zwangsarbeit als Schneider? Halb so wild. Mit seinen Nähkünsten konnte er doch später seine Frau begeistern! Von den 25 Jahren musste er nur vier verbüßen. 1954, kurz nach dem Tod Stalins, kam er frei und floh in den Westen.
Jahrzehntelang wusste er nicht, ob seine Freunde noch lebten. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es die traurige Gewissheit, bestätigt durch Moskauer Archivbelege: Alle Todesurteile waren ausgeführt worden.
Deshalb kramt Brödel jetzt aus einem Ordner eine eng bedruckte Seite hervor: Es ist die Abschrift des letzten Flugblattentwurfs der Widerstandsgruppe, verfasst im Februar 1950. Eindringlich wird darin die antiamerikanische Hass-Propaganda der DDR kritisiert.
"Versteht ihr das nicht? Hassen dürft ihr! Hassen müsst ihr! Hassen ist euch eine nationale Aufgabe geworden. Wie gro ß artig die Idee, den Hass gener ö s in eine Richtung lenken zu wollen. Mit Hass begann es schon einmal. Das Resultat war der Krieg von vorgestern, die Toten von gestern."
Brödel ist sicher: Dies sind Näthers Worte, auch wenn sich das nicht mehr eindeutig nachweisen lässt. Stil und Duktus passten, sagt er. Für ihn ist der Text ein Vermächtnis seines Freundes. Und eine Warnung an die Gegenwart.
"Ich werde nie das Gespür für die Mechanismen einer Diktatur verlieren", sagt Brödel. Dann redet er ruhelos von Erdogan und Putin, während Hündin Sina friedlich weiterschnarcht.
Quelle : spiegel.de
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