Ein Cent fürs Überleben

  18 Januar 2017    Gelesen: 1021
Ein Cent fürs Überleben
Die Crew suchte verzweifelt nach dem Leck, die Flugplatzbesatzung war aufs Schlimmste gefasst: Wegen eines defekten Fahrwerks bereitete der Kapitän von Flug TW125 die Gäste an Bord der Super Constellation 1959 auf eine katastrophale Landung vor - doch dann hatte ein Passagier die rettende Idee.
Dass ein einziger Cent Millionenschäden verhindern und sogar Leben retten kann - davon handelt die Geschichte des Flugs TW125 der Trans World Airlines (TWA), die sich am 17. Januar 1959 in den Vereinigten Staaten ereignet hat. Routinemäßig war der Linienflug der Lockheed L-1049 Super Constellation in Washington D.C. gestartet. Und nichts deutete darauf hin, dass ein Problem in Kürze das Überleben aller an Bord befindlichen Menschen in Frage stellen würde - bis zu jenem Augenblick, als sich die Maschine St. Louis nähert und in den Endanflug übergeht.

Als Flugkapitän Norman E. Schaeffer versucht, das Fahrwerk auszufahren, stellt die Crew erschrocken fest, dass das Hydrauliksystem nicht wie erwartet reagiert. Normalerweise wird das schwere Bugrad nach vorn ausgefahren und mit hohem Druck gegen den beträchtlichen Luftwiderstand abgekippt. Doch heute tut es das nicht - das Rad bleibt auf halbem Wege hängen. Immerhin lässt sich das rechte Hauptfahrwerk in die normale Landeposition bringen, das linke aber verbleibt vollständig im tiefen Fahrwerkschacht verborgen und ist durch nichts zu bewegen, seiner eigentlichen Bestimmung außerhalb der Maschine nachzukommen.

Auf eineinhalb statt drei Beinen lässt sich schlecht landen. Also leitet Kapitän Schaeffer einen Go-Around ein: Er bricht den Landeanflug ab und manövriert die Maschine in eine Fluglage ähnlich wie beim Start. Die Crew beratschlagt, wie weiter verfahren werden soll. Schließlich steht der Entschluss, zur Olathe Naval Air Station auszuweichen, einer Militärbasis 25 Kilometer südwestlich von Kansas City. Der Flugplatz dort verfügt über eine gute Notfallausrüstung und Spezialfahrzeuge, die die Landebahn für eine Notlandung mit einem dichten Teppich aus Schaum überziehen könnten. Sollte eine Bauchlandung erforderlich werden, wäre ein dicker Schaumteppich die beste Versicherung gegen Funkenflug und Brandgefahr.

Fünf bange Stunden

Fünf Stunden kreist die Maschine über St. Louis und Kansas City. Kapitän Schaeffer will damit das reichlich an Bord befindliche Benzin reduzieren - und seinen Männern Zeit geben, das Hydraulikproblem zu lokalisieren. Bald allerdings stellen sie fest, dass das Flugzeug bereits eine größere Menge Hydraulikflüssigkeit verloren hat. Dadurch kann kein ausreichender Druck mehr aufgebaut werden, um das schwere Fahrwerk aus- oder einzufahren. Der Druck geht, so vermuten sie, durch ein Leck im System verloren, weshalb die äußerst ungünstige Position des Fahrwerks nicht mehr korrigiert werden kann.

Weder kann das Fahrwerk vollständig ein- noch komplett ausgefahren werden. Sollte das Flugzeug mit nur einem ausgefahrenen Hauptfahrwerk landen müssen, sind die Chancen, unversehrt aus der misslichen Angelegenheit herauszukommen, gering. In diesem Fall müsste der Kapitän versuchen, die Maschine butterweich auf dem einen ausgefahrenen Fahrwerk aufzusetzen und möglichst lange in einer waagerechten Lage zu halten. Mit Verlust des Auftriebs bei verminderter Fahrt würde sich das Flugzeug hilflos zu der Seite ohne Hauptfahrwerk neigen, bis die Fläche den Boden berührt. Häufig schon sind Maschinen in einer solchen Lage auseinandergebrochen.

Schaeffer will alles Menschenmögliche tun, um dieses Horrorszenario zu vermeiden. Er entscheidet sich dafür, seine Passagiere umgehend über das Problem der "Super Connie" zu informieren. Mit ruhiger Stimme schildert er die Lage. Offenbar eine gute Entscheidung, denn durch seine gelassene Art und mit Hilfe des nach wie vor entspannt lächelnden Kabinenpersonals gewinnen die Fluggäste nach geraumer Zeit die Überzeugung, es gebe nun wirklich Schlimmeres als eine Bauchlandung auf einem Schaumteppich. Das ist allerdings auch tatsächlich der Fall - und genau dies hatte der Flugkapitän mit seiner ausführlichen Durchsage bewirken wollen, denn eine Panik an Bord würde die Lage der Maschine und seiner 33 Insassen nur verschlimmern.

Ein gutgelaunter Passagier

Die Offenheit des Kapitäns erweist sich noch aus einem anderen Grund als gute Entscheidung, denn etwa eine Minute später meldet sich ein Passagier bei der Crew, der seine Unterstützung anbietet. Der junge Mann ist ein erfahrener Mechaniker der Fluggesellschaft Capital Airlines, sein Name John Probey. Er ist bestens gelaunt, denn gerade befindet er sich nach längerer Trennung auf dem Weg zu seiner Frau in Sedalia. Die beiden wollen zusammen Ferien machen. "Wenn daraus etwas werden soll", sagt Probey, "dann sollte ich mein Bestes tun und dabei helfen, die Maschine sicher herunterzubringen."

Ein Glücksfall für die angeschlagene "Connie": Probey ist nicht nur Flugzeugmechaniker, er ist Spezialist für Flugzeugfahrwerke. Auch das Fahrwerk der Super Constellation ist ihm bestens vertraut. Die Crew diskutiert mit Probeys fachlicher Unterstützung ihre derzeitige Lage und benötigt dank seiner Hilfe nicht lange, um der Ursache des Problems auf den Grund zu gehen. Schon bald haben sie das vermutete Leck in einer der vielen Hydraulikleitungen entdeckt. Es ist diejenige, die zu den beiden Hauptfahrwerken führt. Eine Dichtung ist defekt.

Das Leck zu schließen allerdings wächst sich zu einem kaum überwindlichen Problem aus: Probey benötigt irgendetwas, um das Gewinde in der Hydraulikleitung abzudichten, nur so würde er die Flüssigkeit vor dem kompletten Auslaufen retten können. Ein kleines, widerstandsfähiges Teil mit einer genau definierten Form müsste es sein, damit das System nach der Abdichtung wieder den erforderlichen Druck auf der Leitung aufbauen kann. Probey weiß genau, in welcher Schublade seiner Werkstatt er so eine Dichtung finden würde. Woher aber soll er sie hier oben nehmen?

Noch ein Problem

Probey, der Flugingenieur und der Co-Pilot probieren alle möglichen Dinge aus, derer sie habhaft werden können: von einer Lippenstiftkappe bis zu Teilen, die sie in Windeseile aus dem Bord-WC ausbauen. Keines der Provisorien passt. Die Zeit verrinnt. Schließlich hat Probey eine Eingebung: Er nimmt ein Ein-Cent-Stück und probiert es damit. Geht nicht, zu groß. Doch so schnell gibt er nicht auf: In mühsamer, weil sauberer Kleinarbeit feilt er die kleine Münze am Rand etwas schlanker - bis sie schließlich in die Hydraulikölleitung passt. Na also! Sitzt hervorragend, wie eine Dichtung aus seiner Werkstatt. Das Leck ist geschlossen!

Ein Problem ist gelöst, aber ein weiteres ist noch zu überwinden. Die im Hydrauliksystem verbliebene Flüssigkeitsmenge ist derart tief abgesunken, dass trotz des geschlossenen Lecks kein ordentlicher Druck mehr aufgebaut werden kann. Zusätzliches Hydrauliköl gibt es nicht an Bord, doch Probey weiß, dass es im Notfall auch ohne geht: Er füllt den kompletten Wasservorrat aus der Bordküche in die Hydraulikleitungen.

Der aber reicht immer noch nicht aus. Probey meint, die Passagiere müssten dann eben ab sofort auf den Genuss von Kaffee verzichten, Koffein würde die Fluggäste sowieso nur unruhig machen. Mit dem Inhalt aller verfügbaren Kaffeekannen ist der Flüssigkeitsverlust schließlich nahezu vollständig ausgeglichen. Flugkapitän Schaeffer stimmt der Erfolg zuversichtlich, so dass er bereits witzelt, er hätte notfalls auch seine Passagiere einzeln um Mithilfe gebeten - darum, in die Leitung zu urinieren.

Druck reicht nicht aus

Das umgearbeitete Ein-Cent-Stück tut brav seinen Dienst, und die reparierte Leitung hält die merkwürdige Flüssigkeitsmischung lange genug, ohne dass erneut etwas austritt. Mit dem wiedergewonnenen Druck kann Schaeffer das Fahrwerk noch einmal vollständig einfahren. Nun scheint alles für eine Bauchlandung vorbereitet.

Doch es gibt ein weiteres Problem: Der Druck im Hydrauliksystem wird nicht ausreichen, um die schweren Landeklappen an den Tragflächen abzusenken, deren Pumpen über dieselben Leitungen bedient werden. Damit lässt sich das Flächenprofil nicht ändern, und das wiederum bedeutet: Die Maschine müsste mit ungefähr 75 km/h über der normalerweise vorgeschriebenen Landegeschwindigkeit aufsetzen. Das ist verdammt viel!

Fünf große Spezialfahrzeuge haben inzwischen gewaltige Mengen Schaum auf der Landebahn der Olathe Naval Air Station ausgebreitet. Mehr kann die Flughafenbesatzung zunächst nicht tun. Alles ist für die Bauchlandung vorbereitet. Feuerlöschfahrzeuge stehen bereit, Krankenwagen fahren neben die Landebahn. Für die Helfer beginnt jetzt die schlimmste Zeit: Das Warten auf das Einschweben der "Connie" und das tatenlose Mitansehen-Müssen, ob es gutgeht oder nicht.

"Letzte Durchsage"

Den Männern auf Flug TW125 ist es inzwischen gelungen, die schweren Landeklappen mit Hilfe von Muskelkraft manuell auszufahren. Um 16.45 Uhr, fünf Stunden nach Beginn des Notfalls, hören die Fluglotsen im Tower die Stimme von Flugkapitän Schaeffer, die nach der langen Anspannung nun doch etwas angestrengt und ein wenig übermüdet klingt: "TWA eins - zwei - fünf an Olathe Tower. Dies ist die letzte Durchsage. Wir fahren jetzt unsere Generatoren runter." "Viel Glück", antwortet der Mann im Tower und ist froh, dass er nicht in der Maschine sein muss, sondern in seiner Funkbude sitzen darf.

90 Sekunden später schwebt das Flugzeug ein, und Flugkapitän Schaeffer legt eine mustergültige Bauchlandung im Sicherheitsschaum hin. Die Maschine rutscht einige hundert Meter. Aber sie kommt weitgehend unversehrt zum Stillstand, ohne dass ein Feuer ausbricht.

Schaeffer hat sein wichtigstes Ziel erreicht: 33 gesunde Menschen haben die Maschine bestiegen. Und 33 ebenso gesunde Personen verlassen sie nun wieder, ohne einen Kratzer abbekommen zu haben und um eine wichtige Erfahrung reicher: Münzen können erheblich wertvoller sein, als ihre Prägungen vermuten lassen.

Quelle : spiegel.de

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