Der letzte Sommer vor dem Krieg

  05 Februar 2017    Gelesen: 438
Der letzte Sommer vor dem Krieg
Der Sommer 1914 ist in England heiß und will scheinbar nie enden. Selbst in der Kleinstadt Rye sind jedoch die Vorboten des Krieges nicht zu übersehen. Gerade ist noch die Ankunft der jungen Lehrerin eine Sensation, da reißt der Krieg alle Gewissheiten mit sich.
Es sind die Tage unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Im beschaulichen East Sussex bahnt sich eine Revolution an. Eine Lehrerin soll künftig an der Schule Latein unterrichten und tatsächlich trifft Beatrice Nash mit ihrem Schrankkoffer und einigen Bücherkisten in der Kleinstadt Rye ein.

Hier hat die junge Frau, deren Vater erst kürzlich gestorben ist, in Agatha Kent eine Förderin gefunden. Die Frau eines hohen Regierungsbeamten ist voller Reformeifer und dennoch ein wenig von der Tatsache überfordert, dass eine junge Frau gezwungen ist, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Aber noch ist Sommer, Beatrice taucht in die neue Umgebung ein und lernt die Menschen von Rye kennen. Zuallererst die Neffen ihrer kinderlosen Gönnerin, Daniel und Hugh.

Die Cousins sind sich aus vielen gemeinsam bei der Tante verbrachten Sommern freundlich zugetan, obwohl sie verschiedener kaum sein könnten. Daniel soll seinem Onkel in den Staatsdienst folgen, schreibt aber viel lieber und versucht alles, um sein freies Künstlerleben noch ein wenig auszudehnen. Hugh hingegen hat Medizin studiert und ist offenbar auf dem besten Wege, in eine renommierte Londoner Privatpraxis einzuheiraten.

Während die junge Frau unbeabsichtigt für Unruhe in den empfindlichen kleinstädtischen Machtverhältnissen sorgt, treffen in Rye die ersten belgischen Flüchtlinge ein. Damit rückt der sich bisher in der Ferne entwickelnde tobende Krieg wieder ein bisschen näher. Außerdem bricht in der guten Gesellschaft ein regelrechter Wettbewerb aus, wer einen der Belgier beherbergen und damit besondere staatsbürgerliche Verdienste erwerben darf.

Milieustudie vor historische Kulisse

Beatrice macht die schmerzhafte Erfahrung, dass ihr verstorbener Vater ihre eigenen schriftstellerischen Ambitionen kaum unterstützt haben dürfte. Stattdessen setzt er sie nach seinem Tod dem bevormundenden Regime einer Verwandten aus. Und auch ihr Plan, als Herausgeberin der Briefe ihres Vaters erste Meriten zu erwerben, scheitert an dem erstaunlich kleingeistigen Schriftsteller Mr. Tillingham, in dem sie zunächst einen Verbündeten vermutet, jedoch auf einen Konkurrenten stößt.

Stattdessen entpuppt sich ihr Schüler Snout überraschend als vielversprechend. Der Junge, den die meisten Bewohner von Rye wegen der Roma-Herkunft seines Vaters als "dreckigen Zigeuner" abstempeln, hat eine heimliche Liebe für Vergil. Noch bevor Beatrices Pläne für den Jungen so recht Gestalt angenommen haben, zieht Snout jedoch als Freiwilliger in den Krieg.

Nach ihrem gefeierten Debüt "Mrs Alis unpassende Leidenschaft" bewegt sich Helen Simonson erneut in historischer Kulisse. Ihre Geschichte entwickelt sich zunächst gemächlich mit zahlreichen Beschreibungen und langen Gesprächen über die Welt, wie sie ist und, wie der Leser weiß, nicht mehr lange sein wird. Erst nach fast 350 Seiten voller vergnüglicher Teestunden hat Beatrice ihren ersten Tag als Lehrerin an der Schule von Rye.

Doch auf den letzten 100 Seiten bricht der Krieg mit aller Macht über die Menschen herein. Und es bewahrheitet sich, was Mr. Tillingham in Erinnerung an den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg formuliert: "Zu Beginn ist es Trommelwirbel und Pfeifenklang, Fahnenschwung und Wimpelschmuck, aber schon bald erwächst daraus ein langer, grauer Winter der Seele." Für diese 100 Seiten lohnt sich das ganze Buch.

Quelle: n-tv.de

Tags:


Newsticker