Koloss am Meeresgrund

  13 Februar 2017    Gelesen: 690
Koloss am Meeresgrund
Im Jahr 1935 stürzte ein gewaltiges Luftschiff vor der kalifornischen Küste ins Meer. Die U. S. Navy nutzte es als schwebenden Flugzeugträger. Nun dokumentieren Forscher das Wrack mit einer neuentwickelten Fototechnik.
Sie lässt ihn nicht los. 20 Jahre ist es her, seit er zum ersten Mal nach ihr suchte. Nun steht Chris Grech, 52, auf der Klippe beim alten Leuchtturm von Point Sur und blickt mit zusammengekniffenen Augen auf den schäumenden Pazifik hinaus.

"Ein paar Meilen südlich von hier ist sie abgestürzt", brüllt er gegen den Wind und zieht seine Kappe tiefer ins Gesicht, um sich vor den herabklatschenden Regentropfen zu schützen. "In einem Sturm, der noch schlimmer war als dieses Wetter."

Grech steuert Unterwasserroboter, und außerdem ist er stellvertretender Direktor des Monterey Bay Aquarium Research Institute (MBARI) in Kalifornien. Die Katastrophe, die ihn bis heute beschäftigt, ereignete sich am frühen Abend des 12. Februar 1935, unmittelbar vor diesem rauen, atemberaubend schönen Küstenabschnitt etwa 170 Kilometer südlich von San Francisco.

Der Leuchtturmwärter Thomas Henderson saß mit seiner Familie beim Abendbrot, als sich aus der Ferne ein torkelndes silbernes Ungetüm in sein Blickfeld schob - ein schwebender Flugzeugträger.

Die "Macon", der gewaltige Kriegszeppelin der U. S. Navy, 239 Meter lang und über hundert Tonnen schwer, befand sich offensichtlich in ernsten Schwierigkeiten. Henderson schnappte sich ein Fernglas und konnte gerade noch sehen, wie die obere Heckflosse in Stücke barst. Er beobachtete, wie hektisch abgeworfener Ballast ins Meer platschte, worauf die lädierte Riesenwurst erst in die Höhe schoss, dann wieder absackte, bis sie schließlich mit dem Heck auf die Wasseroberfläche prallte und langsam versank.

73 Jahre später ist der Koloss am Meeresgrund ein einzigartiges Studienobjekt für Meeresforscher, Archäologen und Luftfahrthistoriker - und Chris Grech ist der Mann, der es gefunden hat.

Um die "Macon" vor Plünderern zu schützen, halten die Behörden ihre genaue Position bis heute geheim. Bekanntgegeben wurde nur, dass sie einige Meilen südlich von Point Sur in rund 500 Meter Tiefe ruht, auf einem Plateau zwischen tiefen Schluchten.

Doch die größte Gefahr für das modrige Monument der Luftfahrtgeschichte sind nicht die Schatzjäger: "Das Wrack löst sich im Meerwasser langsam auf", sagt Grech. Sollen die Verantwortlichen dem Zerfall tatenlos zusehen? Oder sollen sie wertvolle Relikte in einem komplizierten und kostspieligen Verfahren an Land holen, um sie für die Nachwelt zu erhalten?

Grech, ein kräftiger Mann mit kahlem Schädel und fast unsichtbaren Augenbrauen, hat bislang ein halbes Dutzend Expeditionen zu seinem kolossalen Fund mitorganisiert. Ein Dokumentarfilm, den SPIEGEL TV derzeit für Arte und das ZDF produziert, zeichnet seine abenteuerliche Suche nach dem Wrack und den Ursachen der Katastrophe nach.

Die aufwendigste Expedition, deren wissenschaftliche Auswertung wohl im Herbst 2009 abgeschlossen sein wird, fand vor zwei Jahren statt. Ein interdisziplinäres Forschungsteam des MBARI, der Wetter und Ozeanbehörde NOAA, der Navy und der Stanford University brach mit einem Schiff zur Unglücksstelle auf, um die Reste des Kriegszeppelins mit einer eigens für diesen Zweck entwickelten Fototechnik erstmals vollständig zu dokumentieren.

Fast vollständig jedenfalls - denn ausgerechnet das kaputte Heckteil, das den Absturz verursachte, bleibt bis heute auf rätselhafte Weise verschollen.

Raumfahrttechniker der Stanford University programmierten einen Unterwasserroboter so, dass er über einer Fläche von 3000 Quadratmetern hin und her schwebte und mit einer digitalen, hochauflösenden Kamera alle paar Zentimeter ein Foto schoss - so nah wie möglich, aber ohne die fragilen Wrackteile zu berühren. Aus rund 14.000 Aufnahmen soll auf diese Weise ein lückenloses Fotomosaik entstehen, auf dem alle Fundstücke zu erkennen sind: das zerbrochene Gerippe des Luftschiffs, die schweren Maybach-Motoren,

Treibstofftanks, Mobiliar und natürlich die vier Jagdflugzeuge des Typs Curtiss F9C-2 "Sparrowhawk", die sich am Unglückstag im Bauch des Zeppelins befanden.

"Die Methode ist enorm aufwendig, aber die einzige Möglichkeit, in der Dunkelheit unter Wasser eine größere Fläche abzubilden", erklärt Grech. Er sitzt jetzt vor dem Kamin im alten Haus des Leuchtturmwärters. Draußen heult immer noch der Wind, und drinnen erzählt Grech von der letzten Fahrt der "Macon".

In den Aufbruchsjahren nach dem Ersten Weltkrieg hatten die unförmigen Luftfahrzeuge des badischen Landjunkers Ferdinand Graf von Zeppelin in den USA eine ähnliche Begeisterung ausgelöst wie in dessen Heimatland. Trotz ihrer chronischen Störanfälligkeit galten Zeppeline auf beiden Seiten des Atlantiks als Symbol von Fortschritt und nationaler Stärke. Wo sie vorbeischwebten, wurde ihnen zugejubelt. Die Menschen strömten in Scharen herbei, um sie aus der Nähe zu bestaunen. Sigmund Freud fand eine Erklärung für die Masseneuphorie: "Als ein ganz rezentes Traumsymbol des männlichen Genitales ist das Luftschiff zu erwähnen."

Dass ein Riesenphallus nach dem anderen in der Luft zerbarst, explodierte oder abstürzte, brachte die US-Marine nicht von ihren ehrgeizigen Plänen ab: Sie wollte Luftschiffe als schwebende Flugzeugträger einsetzen, die kleine Doppeldecker-Flugzeuge zu Spähflügen weit über die Meere hinaustragen könnten.

Im Gegensatz zu den Deutschen verwendeten die Amerikaner zwar keinen explosiven Wasserstoff als Traggas, sondern das teure, aber reaktionsträge Helium - doch technisch waren sie den Luftschiffpionieren in Friedrichshafen weit unterlegen. Mitte der zwanziger Jahre holte die Goodyear-Zeppelin Corporation deshalb den deutschen Ingenieur Karl Arnstein nach Ohio, um die beiden größten und teuersten Kriegszeppeline zu entwerfen, die jemals in den USA gebaut werden sollten: die "Akron" und die "Macon".

Die "Akron" startete zuerst - und zerbrach nach nur 73 Einsätzen im April 1933 in einem Unwetter über dem Atlantik. 73 Männer ertranken, 3 überlebten.

Nun blieb nur die "Macon". Mit acht schweren Motoren ausgestattet, fuhr sie bis zu 140 Stundenkilometer schnell. In ihrem Rumpf war Platz für fünf Jagdflugzeuge, die sich in halsbrecherischen Manövern über Metalltrapeze an der Unterseite aus und wieder einklinken konnten. Dank eines Treibstoffvorrats von bis zu 56 Tonnen konnte das Riesenluftschiff die Flugzeuge tagelang zur Überwachung einer Fläche von rund 275.000 Quadratkilometern aussenden.

Im April 1934 geriet die "Macon" über Florida in heftige Turbulenzen. Windstöße rissen zwei der Tragringe am Heck aus den Nieten. Trotzdem setzte Kommandant Herbert Wiley, einer der drei Überlebenden des "Akron"-Absturzes, die Reise fort.

Mehr noch, Wiley entschied sich wenig später mit seinem lädierten Luftgefährt sogar noch für ein tollkühnes Manöver. Um das Ausspähpotential des angeschlagenen Riesen zu demonstrieren, spürte er mitten im Pazifik, Tausende Kilometer von der Küste entfernt, ein Schiff mit einem prominenten Urlauber an Bord auf: Franklin D. Roosevelt.

Wiley schickte einen "Sparrowhawk" hinab, der eine aktuelle Tageszeitung für den US-Präsidenten abwarf. Seine Vorgesetzten bei der Navy waren entsetzt über diese Dreistigkeit, doch Roosevelt gratulierte begeistert: "Well done."

Nur ein halbes Jahr später schlingerte das letzte US-Riesenluftschiff vors Fernglas des Leuchtturmwärters in Point Sur. Und diesmal wurde ihm sein notdürftig repariertes Heckteil zum Verhängnis.

Ein Windstoß zerfetzte die obere Steuerflosse, zerbrochene Querstreben schlitzten die rückwärtigen Gaszellen auf, so dass der Zeppelin hinten absackte und an Höhe verlor. Wileys Befehl, sofort Ballast abzuwerfen, machte alles noch schlimmer: Nun schoss die "Macon" wieder empor, weit über ihre Prallhöhe von 900 Metern hinaus - den Punkt, an dem der Druck in den Heliumzellen so groß wurde, dass sich automatisch die Ventile öffneten und Gas entwich.

Bis auf etwa 1700 Meter stieg der Koloss, dann ging es ruckartig abwärts, bis er mit dem Hinterteil aufs Wasser aufschlug. 81 von 83 Besatzungsmitgliedern konnten sich auf Flöße retten, während die "Macon" gurgelnd im Meer unterging. Der Funker und ein Küchengehilfe fanden den Tod.

"Danach war die Ära der großen Kriegszeppeline endgültig vorbei", erzählt Grech. "Die Navy wollte nur noch, dass dieser desaströse Teil der amerikanischen Luftfahrtgeschichte möglichst schnell vergessen wird."

Mehr als ein halbes Jahrhundert lang lag die "Macon" am Ozeangrund. Ihr Wrack blieb unauffindbar. Erst in den achtziger Jahren weckten zwei Luftfahrthistoriker Grechs Interesse. Fortan war er besessen davon, das Wrack zu finden. Schließlich gelang es ihm, seinen damaligen Chef David Packard, Mitbegründer des Technologiekonzerns Hewlett-Packard und Stifter des MBARI, für eine Suchaktion zu gewinnen. "Dave hatte all seine wichtigen Freunde aufs Schiff eingeladen und jede Menge Journalisten", berichtet Grech. Dass sie bloß einen alten Schuh fanden, war peinlich genug. "Aber dann fuhr der Kapitän auch noch über das Kabel des Unterwasserroboters, es verfing sich in einem Propeller und blockierte das Schiff - ein Desaster!" Tobend vor Wut ließ sich Packard von einem Fischerboot an Land bringen. Von der "Macon" wollte er fortan nichts mehr hören.

Schließlich hing des Rätsels Lösung nur wenige Meter von Grechs Büro entfernt in einer Fischerkneipe an der Wand - ein Stück Aluminiumtragrohr, das ein Fischer schon vor Jahren aus dem Wasser gezogen hatte. Gewissenhaft hatte er die Fundstelle in seinem Logbuch eingetragen.

Grech war elektrisiert. Kurzerhand überredete er den Offizier eines Navy-Schiffs, das sich zufällig in der Nähe aufhielt, die Spur zu verfolgen. "Ich war furchtbar nervös", sagt er und grinst. "Aber diesmal dauerte es nur zehn Minuten, dann hatten wir die `Macon` gefunden."

Mehrere US-Museen haben seither ihr Interesse an einer Hebung des Wracks bekundet. Doch die zuständigen Behörden tun sich schwer. "Das Bergen und Aufbewahren von Artefakten aus dem Meer ist sehr teuer und kompliziert", erklärt Bruce Terrell, der als Chefarchäologe der NOAA an der jüngsten Expedition teilnahm.

Zudem gebe es vorerst keinen Grund zur Eile: Der zentimeterdicke Schlamm, der sich auf dem Wrack angesammelt habe, vermindere die Sauerstoffzufuhr und verlangsame so den Zerfallsprozess.

Das sieht "Macon"-Entdecker Grech ganz anders. Er ist sich sicher, dass sein Fund in den vergangenen Jahren sichtlich geschrumpft ist. "Was hat es für einen Sinn, etwas zu schützen, das sich auflöst?", fragt er. "Und wie viele Menschen können sich an einem Denkmal erfreuen, das 500 Meter unter Wasser liegt?"

Quelle : spiegel.de

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