Würde Angela Merkel zurücktreten? Nur in einem Fall

  29 März 2017    Gelesen: 424
Würde Angela Merkel zurücktreten? Nur in einem Fall
Die Kanzlerin stellt das neue Buch von Ex-Justizministerin Leutheusser- Schnarrenberger vor. Und beantwortet in diesem Zug auch gleich die Frage, in welchem Fall sie zurücktreten würde.
Kompromisse gehören zum Wesen der parlamentarischen Demokratie. Sie sind die vernünftige Art des Interessenausgleichs, zeugen von der Achtung gegnerischer Positionen. Die Bereitschaft, für eine Übereinkunft auf Teile der eigenen Forderungen zu verzichten, ist die Grundlage politischer Arbeit. Wer immer nur „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ ruft, dem fehlt die Fantasie für die Suche nach besseren Alternativen.

Und doch gibt es einen kompromissfesten Kern. „Es gibt einen Raum, wo Abwägung aufhört“, sagt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. „Es muss grundlegende Fragen geben, wo man andere Auffassungen nicht mehr vertreten kann.“ Wo diese Grenze für die ehemalige Bundesministerin der Justiz verläuft, ist spätestens seit 1996 bekannt: Es sind die Grundrechte.

Wenn es um den Wesensgehalt der Freiheitsgarantien der Verfassung geht, dann ist für die FDP-Politikerin Schluss mit Kompromissen. Weil sie den von der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung geplanten und gegen ihren Willen von der FDP unterstützten sogenannten Großen Lauschangriff ablehnte, trat sie aus dem Kabinett von Helmut Kohl zurück. Das ist lange her, aber noch heute wird sie von Bürgern darauf angesprochen. Eine Ministerin, die sich den eigenen Überzeugungen verpflichtet fühlt und nicht um jeden Preis an ihrem Amt klebt – diese Haltung ist ganz offenbar etwas, was den Menschen in Erinnerung bleibt.

Rücktritt? „Das ist eine spannende Frage“

Leutheusser-Schnarrenbergers gerade im Kösel-Verlag erschienenes Buch „Haltung ist Stärke“ beginnt mit der Beschreibung dieses Rücktritts. Eine Kabinettskollegin von damals hat das rund 200 Seiten umfassende Werk nun der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Kollegin heißt Angela Merkel. Da drängte sich zunächst natürlich die Frage auf: Gibt es auch für die Bundeskanzlerin diese Grenze? Ist Haltung eine politische Währung, die sich lohnt? Wann würde sie zurücktreten?

„Das ist eine spannende Frage“, sagte Merkel. Ihre Antwort: „Wenn ich zu der Überzeugung gelange, dass es zu einer persönlichen dauerhaften Deformation kommt.“ Ein Politiker müsse sich ständig die Frage stellen: „Wie weit kannst du bei einem Kompromiss gehen?“ Definieren wollte sie ihren kompromissfesten Kern aber nicht: „Belassen wir es bei dem Befund, dass ich bislang nicht zurückgetreten bin.“

Immerhin machte Merkel deutlich, dass sie bei der Abwägung von Freiheitsrechten mit Sicherheitsinteressen zu anderen Ergebnissen komme als Leutheusser-Schnarrenberger. Angesichts von Terrorgefahren erwarteten die Bürger zu Recht, dass der Staat ihre Sicherheit in Freiheit bestmöglich gewährleiste, sagte Merkel.

Dass sich die Kanzlerin dennoch eine Stunde Zeit nahm, um das Buch anzupreisen, hat also andere Gründe. Der erste ist die persönliche Wertschätzung. Beide Frauen waren Anfang der 1990er-Jahre gleichzeitig in den Bundestag gewählt worden, beide traten kurz darauf als Jungministerinnen ins Kabinett von Helmut Kohl ein.

Schnell wurden sie Leidensgenossinnen, deren Anliegen vom Kanzler nicht immer ernst genommen wurden. Die FDP-Politikerin beschreibt im Buch eine Szene, als Merkel von Kohl rüde abgekanzelt wurde und empört den Kabinettssaal verließ. Leutheusser-Schnarrenberger fand das ungehörig und tröstete die Kollegin – auf der Kanzleramts-Toilette.

„Es geht um Grundelemente der Demokratie“

Der zweite Grund, warum Merkel das Buch vorstellte, ist dessen eigentlicher Inhalt. Denn es handelt nicht nur von Leutheusser-Schnarrenbergers Biografie, sondern vor allem von der Frage, wie mit der Krise Europas, mit dem aufkommenden Populismus und dem Zweifel an liberalen Werten umzugehen ist.

„Was lange selbstverständlich schien, ist heute nicht mehr selbstverständlich“, schreibt die FDP-Politikerin. „Geschmacklosigkeiten, Regelverstöße, Lügen, faktenfreie Behauptungen, Verschwörungstheorien, Diffamierung Andersdenkender, Beleidigungen, Hassparolen“ nähmen zu, die Kraft der Vernunft wirke kraftlos. „Es geht um die Grundelemente der Demokratie“, sagte Leutheusser-Schnarrenberger. „Da dürfen wir nicht tatenlos zuschauen, sondern sind gefordert zu kämpfen“. Das Buch ist ihr Beitrag dazu: Der Politik empfiehlt sie Haltung, der Zivilgesellschaft Engagement.

Merkel holte weit aus, um ihre Sicht der Dinge darzulegen. Sie begann 1990 mit der deutschen Einheit und dem Siegeszug der Demokratie über die Diktaturen des Ostblocks. Man habe damals ja schon vom Ende der Geschichte gesprochen – in der rückblickenden Analyse der Kanzlerin ein grandioser Irrtum. Denn schon mit dem Ende der bipolaren Welt hätten die Probleme begonnen, die die Weltlage heute kennzeichnen: Der Rückzug der Großmächte Russland und USA, die sich „plötzlich nicht mehr gekümmert haben“ um die Krisen in Afrika, Nahost und vielen anderen Regionen der Welt.

Die Folgen: Erst der Krieg auf dem Balkan als erstes Zeichen der neuen Weltunordnung. Dann Russland, das seinen Zerfall als Demütigung verstanden habe. Und schließlich die Herausforderungen „im islamischen Bereich“, die Europa auf die Probe stellten. Gleichzeitig gebe es immer weniger Zeitzeugen, zum Beispiel aus der NS-Zeit, die von verheerenden Fehlentwicklungen in Krisenzeiten erzählen könnten.

Selbst jüngere Geschichte wie die deutsche Einheit sei für viele in der jüngeren Generation nicht mehr präsent. „Ich selber komme immer öfter in die Situation meiner Oma: Die hat immer vom Krieg erzählt. Ich erzähle von der Einheit und merke: Das hat mit dem Leben der jungen Leute nix mehr zu tun.“

Merkels Befürchtung: Niemand fühle sich mehr dafür zuständig, dass das Modell des freiheitlichen Staates bestehen bleibe. Die Politik allein sei damit überfordert, wie Leutheusser-Schnarrenberger forderte die Kanzlerin mehr gesellschaftliches Engagement. Merkel zitierte den früheren Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Es sei Verantwortung der Bürger, sich immer wieder daran zu erinnern, was die Voraussetzungen für Demokratie seien: „Dafür fühlt sich aber irgendwie keiner verantwortlich“, sagte sie mit Verweis auf die abnehmende Bindungskraft großer gesellschaftlicher Organisationen wie der Kirchen. „Das wird nicht gelingen durch die Politiker oder eine kleine Gruppe“, mahnte die Kanzlerin. „Das wird nur gelingen, wenn es dazu eine große gemeinsame Bewegung gibt.“

Lindner ist gegen schwarz-gelbe Signale

Als Hoffnungsschimmer machten Merkel und Leutheusser-Schnarrenberger die proeuropäischen Demonstrationen „Pulse of Europe“ an, die jeden Sonntag in vielen deutschen und anderen europäischen Städten stattfinden. „Das ist nicht gegen Politik gerichtet, das ist die notwendige, erfreuliche Ergänzung, wenn Menschen sagen, das ist mir was wert“, sagte Merkel. Wenn es dieses Bekenntnis nicht mehr gäbe, hätte Politik ihr Fundament verspielt.

So viel zum Grundsätzlichen. Neben dem großen ging es auch noch um ein etwas kleineres Karo. Merkel wäre nicht in ihrer dritten Legislatur als Kanzlerin, wenn sie nicht einen weiteren Grund gehabt hätte, sich die Zeit für die Buchpräsentation zu nehmen. Im September sind Bundestagswahlen, die FDP ist im Aufwind, und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Liberalen im Herbst für eine Regierungsbildung gebraucht werden könnten.

„Ich bin überzeugt, dass starke liberale Positionen einen Platz in unserem öffentlichen Diskurs haben müssen“, sagt Merkel also. Schwarz-Gelb habe von 2009 bis 2013 auch „nicht alles falsch gemacht“, sondern angesichts der internationalen Krisen durchaus „viel bewegt“. Außerdem spreche es für die liberale Partei, dass sie eine Frau wie Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gleich zwei Mal als Justizministerin nominiert habe.

Die so Gelobte dürfte diese Anerkennung freuen. Den amtierenden Parteichef Christian Lindner allerdings weniger. Der hatte bereits vorsorglich wissen lassen, dass er die FDP nicht mehr „als den natürlichen Koalitionspartner von irgendjemandem“ sieht. Von einer schwarz-gelben Charmeoffensive will er nichts wissen, schließlich stelle in der Regel ja „ein politischer Gegner so ein Buch vor“.

Quelle : welt.de

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