Warum es immer noch Chemiewaffen in Syrien gibt

  10 April 2017    Gelesen: 544
Warum es immer noch Chemiewaffen in Syrien gibt
Der Giftgasangriff auf Chan Schaichun sorgte weltweit für Entsetzen. Eigentlich dürfte es in Syrien gar keine Chemiewaffen mehr geben, denn sie wurden 2014 vernichtet. Doch eine neue Produktion wäre unauffällig möglich.
Der Luftangriff auf die syrische Stadt Chan Schaichun war ein Schock. Wieder war eine tödliche Chemikalie gegen Zivilisten eingesetzt worden, vermutlich Sarin. Mehr als 80 Menschen starben - darunter Dutzende Kinder. Die USA reagierten mit einem Raketenangriff auf einen Luftwaffenstützpunkt der Syrer.

Vieles deutet darauf hin, dass die Armee von Diktator Baschar al-Assad ein gefährliches Nervengift eingesetzt hat. Aber eigentlich sollte es in Syrien gar keine chemischen Waffen mehr geben. Denn nach dem verheerenden Sarin-Angriff auf einen Vorort von Damaskus im August 2013 mit rund 1400 Toten war Syriens Machthaber international massiv unter Druck geraten.

Produktion binnen weniger Tage

Assad stimmte schließlich der Vernichtung aller deklarierten Giftgas-Bestände und chemischen Ausgangsstoffe zu. Unter Aufsicht der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) wurden Hunderte Tonnen landesweit eingesammelt und auf einem US-Spezialschiff unschädlich gemacht. Giftige Reste der Aktion kamen ins niedersächsische Munster zur endgültigen Vernichtung. Die OPCW wurde 2013 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Dass bei dieser weltweit bislang beispiellosen Vernichtungsaktion nicht alle syrischen Kampfstoffe entdeckt wurden, ist keine große Überraschung. Die Inspektoren konnten schließlich kaum jedes Gebäude untersuchen. Erschwerend hinzu kamen die immer wieder aufflammenden Kämpfe.

Experten halten es aber auch für denkbar, dass in Syrien mittlerweile wieder Nervengifte wie Sarin hergestellt werden. Die Produktion erfordere weder außergewöhnliche Expertise noch besondere Ressourcen, sagte John Gilbert vom Center for Arms Control and Non-Proliferation aus Washington. "Ein kompetenter Chemiker kann das hinbekommen", erklärte er gegenüber "Wired", "wahrscheinlich ziemlich schnell binnen weniger Tage".

Zur Herstellung brauche man keine große Fabrik, ein 20 Quadratmeter großer Raum reiche völlig aus. Ein solches Labor für kleinere Mengen Sarin lässt sich unauffällig in einem Lagerhaus betreiben. Mit Drohnen- oder Satellitenüberwachung wäre es kaum zu entdecken.

Nach Gilberts Schätzung kamen beim Angriff auf Chan Schaichun nur etwa 20 Liter Sarin zum Einsatz - eine winzige Menge im Vergleich zu den über 1000 Tonnen chemischer Kampfstoffe, die Syriens Armee gelagert und dann zur Vernichtung herausgegeben hatte. Man braucht aber auch nur wenige Liter Sarin, um Dutzende Menschen zu töten.

Das Gift stört die Signalübertragung zwischen Nervenzellen im ganzen Körper. Zu den ersten Symptomen gehören Sehschwierigkeiten, eine laufende Nase und ein Engegefühl in der Brust. Nach und nach versagen dann alle Körperfunktionen, Betroffene fallen ins Koma und sterben.

Sarin ist bei Zimmertemperatur flüssig und wird deshalb beim Einsatz zerstäubt. Weil das Nervengift so gefährlich und obendrein chemisch nicht stabil ist, findet man in Waffendepots und Granaten eigentlich immer die zwei voneinander getrennten Ausgangssubstanzen Methylphosphonsäuredifluorid und Isopropanol.

Bei derartigen Binärkampfstoffen werden die beiden Chemikalien erst kurz vor dem Einsatz vermischt und reagieren dann zu Sarin.

Sich die chemischen Zutaten zu beschaffen, ist durchaus möglich, wie im November 2001 ein Redakteur des US-Wissenschaftsmagazins "Scientific American" bewies. Auch bei dem Sarin-Angriff auf Tokios U-Bahn 1995 hatten sich die Terroristen der Aum-Sekte die Chemikalien selbst besorgt und das Nervengift in einem größeren, professionell ausgestatteten Labor synthetisiert.

Ohne ausreichende Erfahrung als Chemiker lasse sich Sarin allerdings kaum herstellen, meint der Chemiewaffenexperte Dan Kaszeta, der lange für das Chemical Corps der US-Armee und den US-Geheimdienst gearbeitet hat. "Nein, Sarin kann man nicht in der Küche produzieren", schrieb er für "Bloomberg View".

"Üble Verbindung"

Selbst wenn man alle Zutaten zusammenhabe, sei die Produktion schwierig und in einem Küchenlabor kaum möglich. Nicht zuletzt, weil schon die Ausgangstoffe gefährlich seien. Fluorwasserstoff etwa sei eine "üble Verbindung", man brauche sehr viel davon. "Jeder, der die Zutaten versucht zusammenzubringen, kann sich selbst und Personen in der Nähe dabei töten oder schwer verletzen."

Woher das nun in Syrien eingesetzte Nervengift letztlich kam, ist bislang nicht geklärt. Der Chemiewaffenexperte Dan Kaszeta hält auch für möglich, dass der Angriff nicht mit Sarin, sondern mit dem ähnlich wirkenden Tabun erfolgte.

Trotz Trumps prompter Reaktion bleiben die Einflussmöglichkeiten des Westens gering. Mit gezielten Luftschlägen wird es kaum gelingen, Labore oder Depots zu zerstören, solange man nicht weiß, wo sich diese befinden. Am ehesten könnte derzeit wohl nur Russlands Präsident Wladimir Putin dafür sorgen, dass chemische Waffen endgültig aus Syrien verschwinden.

Quelle : spiegel.de

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