Es stimmt ja: Auf dem Papier ist die Abstimmung natürlich ein Erfolg für die Republikaner und Trump. Nach Jahren des Widerstands und sechs Wochen nach dem ersten gescheiterten Versuch stimmte das US-Repräsentantenhaus als erste Kammer für die Rücknahme von Obamacare. Der Präsident musste dafür ziemlich viel tun, er bearbeitete Kritiker des Vorhabens im Oval Office und betrieb tagelange Telefondiplomatie. Trump brauchte den Abstimmungserfolg unbedingt, als Zeichen dafür, dass er nach unzähligen Schlappen und Rückschlägen wenigstens irgendetwas durchzusetzen im Stande ist.
Und trotzdem war die Jubelveranstaltung im Weißen Haus einer der merkwürdigsten Momente in der jüngeren Geschichte der Partei. Denn man muss kein Fan von Obamacare sein, um zu erkennen, dass die Zukunft jenes Ersatzgesetzes, das die Republikaner am Donnerstag durchwinkten, vollkommen unklar ist und ganz ungeachtet der Frage, ob es jemals Realität wird, jede Menge Potential hat, zu einem schweren Problem für die Partei und ihren Präsidenten zu werden.
Dafür gibt es mehrere Gründe: Erstens wissen die Republikaner nicht wirklich genau, was sie eigentlich durchgesetzt haben. Es zirkulierte kein öffentlicher Gesetzentwurf, die Führung der Republikaner schraubte am Plan in den letzten 48 Stunden noch hektisch herum, um einzelne Abgeordnete zu überzeugen. Und entgegen sämtlicher Traditionen und eigener Prinzipien wartete die Partei nicht die Berechnungen der unabhängigen Haushaltsbehörde des Kongresses ab, wie viele Amerikaner durch das Ersatzgesetz ihre Versicherungen verlieren könnten und wie sich das Vorhaben auf den Etat auswirkt.
Die Behörde hatte lediglich den letzten Entwurf im März bewertet und desaströse Zahlen veröffentlicht: Rund 24 Millionen Amerikaner, so das "Budget Office" damals, würden in den kommenden Jahren ihre Versicherung verlieren. Besonders alte Menschen bekämen Probleme, ihren Schutz zu finanzieren. Viele in Washington gehen davon aus, dass sich auch das neue Gesetz in etwa in dem Rahmen bewegen wird.
Zweitens ist das, was über das Gesetz bekannt ist, eine bemerkenswert offenkundige Umverteilung von unten nach oben. Gutverdienende Amerikaner sollen steuerlich um 600 Milliarden Dollar entlastet werden, indem jene Abgaben gestrichen werden, die sie unter Obamacare für die staatlichen Subventionen leisten mussten. Leiden dürften alte und arme Amerikaner, denn die staatliche Sozialversicherung Medicaid soll gekürzt werden (obwohl Trump im Wahlkampf das Gegenteil versprochen hatte).
Zudem wollen die Republikaner allen Bundesstaaten zugestehen, Versicherungsfirmen von der bisherigen Pflicht zu entbinden, Menschen mit Vorerkrankungen aufnehmen zu müssen - also etwa Patienten mit Herzfehlern, Behinderungen, Rheuma oder Depressionen. Um die Folgen für diese US-Bürger abzufedern, sind Gelder in Höhe von acht Milliarden Dollar für fünf Jahre vorgesehen. Diese Finanzspritzen sollen sogenannte Risiko-Pools finanzieren, in die Amerikaner mit Vorerkrankungen fallen. Mehr als jeder vierte Amerikaner hat allerdings eine Vorerkrankung, weswegen kaum jemand davon ausgeht, dass dieses Geld auch nur ansatzweise ausreicht.
Drittens ist offen, wie es jetzt weitergeht. Die Abstimmung im Repräsentantenhaus war lediglich der erste Schritt, das Vorhaben - das in Umfragen übrigens miserabel abschneidet - muss noch durch den Senat. Und dort haben etliche Republikaner schon signalisiert, wie groß ihre Bedenken sind. "Null Chance" habe das Vorhaben, sagte Bob Corker, der Außenpolitiker. Es kann gut sein, dass am Ende auch der Senat dem Gesetz zustimmt, schließlich geht es um ein zentrales Wahlversprechen der Partei. Aber unverändert wird das Regelwerk kaum die obere Kammer passieren, erst recht nicht, wenn in den kommenden Tagen klarer wird, welche Folgen es haben könnte.
Viertens stellt schon die erste Abstimmung ein gewaltiges Risiko für die Midterm-Wahlen dar. Im November 2018 stehen alle Mitglieder des Repräsentantenhauses zur Wiederwahl und jene Republikaner, die am Donnerstag für die Abschaffung von Obamacare stimmten, dürften nun schwere Zeiten durchleben. Besonders jene 14 Ja-Sager, die aus Wahlbezirken stammen, die 2016 Hillary Clinton gewann, sind in Gefahr. Allein sieben von ihnen kommen aus Kalifornien, dem Staat, der sich als Hort des Widerstands gegen Trump versteht. Aber auch anderswo dürften die republikanischen Abgeordneten auf harte Proteste stoßen. Interessanterweise ist gerade in den Südstaaten, die Trump so locker gewann, der Anteil von Bürgern mit Vorerkrankungen besonders hoch und es wäre wenig überraschend, wenn die dortigen Town-Hall-Treffen zu wahren Hexenkesseln würden.
Die Demokraten haben längst begonnen, sich auf die entsprechenden Abgeordneten zu fokussieren. "Ihr habt jeden Paragraph dieses Gesetzes als Tattoo auf eurer Stirn", warnt Nancy Pelosi, die Chefin der Partei im Abgeordnetenhaus: "Die werden sogar im Dunkeln leuchten."
Quelle : spiegel.de
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