Mister Putin und Lady Gaga

  23 November 2015    Gelesen: 899
Mister Putin und Lady Gaga
Das „Time Magazine“ veröffentlichte die Resultate der Leserumfragen, aufgrund derer die Zeitschrift ihr jährliches Rating der 100 einflussreichsten Menschen der Welt aufstellt.
Auf der ersten Zeile finden wir den Präsidenten Russlands Wladimir Putin. Man sollte meinen, es ist angebracht, sich zu freuen über unseren grossartigen Landsmann. Bloss stört hier etwas.

Beim Blick auf die ersten zehn einflussreichsten Personen überrascht, in welch illustrer Gesellschaft sich unser Wladimir Wladimirovitsch befindet. Ein richtiger Blumengarten. Auf dem zweiten Platz landet die koreanische Sängerin Lee Chae-rin (LC), es folgen ihre bezaubernden Kolleginnen aus der ganzen Pracht der Popmusik: Lady Gaga, Rihanna, Taylor Swift und etwas weiter unten Beyoncé. Hier findet sich auch Emma Watson, die im „Harry Potter“ verewigt wurde. Tatsächlich taucht Harry Potter selbst nicht auf der Liste auf, jedoch wird die Abwesenheit dermassen einflussreicher (und man kann sogar sagen magischer) Personen mehr oder weniger durch die Anwesenheit des Dalai Lama und des Papstes wieder wett gemacht. Jedenfalls kann Putin zu Recht stolz auf sich sein.

In Sachen vielfältiges Repertoire steht Wladimir Wladimirovitsch allerdings noch weit im Abseits im Vergleich zu den führenden Vertretern der Popmusik. Bis anhin hat er uns nur das Lied „Womit die Heimat beginnt“ vorgetragen. Dafür hat er in puncto Beschwörung des Sieges des Guten über das Böse seit langem sowohl Emma Watson wie auch alle geistigen Führer der weltweiten Religionen überholt.

Mit Hilfe seiner Wortkreation „im Pissoir ersäufen“ sendet er tückische Zauberer auf magische Weise schon seit 15 Jahren auf „nicht sonderlich abgelegene Plätze“. Diese Zauberer bewundern tschetschenische Berge, die Wälder in Kirow, baschkirisches Öl und ebenso Felder, Wasser und die zahlreichen Eigentümer des Verteidigungsministeriums.

Die Liste des „Time Magazine“ hätte man einfach als Kuriosum abtun können. Aber zwei wichtige Punkte erregen Aufmerksamkeit.

Punkt 1: Die Helden der Liste sind in einem gewissen Sinn tatsächlich die einflussreichsten Leute. Sie treffen natürlich keine politischen oder wirtschaftlichen Entscheidungen, die das Weltgeschehen bestimmen, jedoch wirken sie viel mehr auf das Bewusstsein ihrer Fans als Obama, Hollande oder Merkel.

Die aktuellen Präsidenten und Kanzlerinnen haben eigentlich gar keine Fans. Man wählt sie auf höhere Posten, damit sie angemessen handeln und nicht, weil man in ihnen Idole sieht, die man nachahmen will. Wenn man ehrlich ist, muss man allerdings einen Teil der Wählerschaft erwähnen, der sich doch solche Politikeridole schafft, selbst in demokratischen Ländern mit ausgeprägter Zivilgesellschaft, aber es handelt sich doch eher um eine Ausnahme als um die Regel.

Der Popstar nun ist fähig, den Lebensstil Millionen seiner Fans zu beeinflussen, die versuchen, sich so zu kleiden wie er, so zu singen, die gleichen Bücher zu lesen und in die gleichen Kurorte zu reisen. Der amerikanische Politiker Obama kann gegen Russland Sanktionen durchführen, aber Millionen kann er nicht anführen. Die barbadische Sängerin Rihanna beschäftigt sich nicht mit Sanktionen, führt aber eine Masse Verehrer wie der Rattenfänger von Hameln.

Punkt 2: Was die Einwirkung auf das Bewusstsein der Leute und das reelle Leben der heutigen Welt angeht, wird Putin nicht Merkel, sondern Lady Gaga immer ähnlicher. Obwohl der Präsident Russlands seine politische Karriere tatsächlich als Politiker begann, der Entscheidungen treffen wollte, und nicht als Popstar, der eine Masse von Bewunderern in eine unbekannte Richtung führt.

In den folgenden 15 Jahren wird es für den an der Macht bleibenden Putin immer schwieriger werden, auf wichtige Prozesse durch seine Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Erstens, bei einer Wirtschaft, die sich in Stagnation befindet, werden die Ressourcen für solche Entscheidungen nicht mehr genügen. Und zweitens hat er in den letzten 15 Jahren so viele Entscheidungen getroffen, dass er von allen Seiten durch die früheren Verpflichtungen gebunden ist. Alle dem Land zur Verfügung stehenden Ressourcen werden zum Stopfen der alten Löcher gebraucht werden. Die Rentner müssen gefüttert werden, die Krim aufrecht gehalten, die Maschinenbaufirma Ural-Waggon-Werk mit staatlichen Aufträgen versorgt werden und die Vorteile für die zahlreichen Mitstreiter bewahrt bleiben, die in geschlossenen Reihen hinter dem nationalen Führer stehen.

Die politische Zukunft Putins bemisst sich heute nicht daran, welche Entscheidungen er trifft, sondern daran, wie er Millionen Fans hinter sich scharen kann. Der Präsident wird die Wirtschaft nicht vor Stagnation retten, das vergangene Wachstum der Reallöhne der Bevölkerung nicht zurückgeben und die Politik der weltweiten Führer in Bezug auf Syrien, den Iran oder Nordkorea nicht beeinflussen. Für all das hat er weder genug Ressourcen noch genügend Macht. Jedoch kann er noch ziemlich lange nationaler Führer bleiben in einem stagnierenden Land, in dem Bürger regelmässig diverse Turnübungen ausführen wie wieder auf die Füsse kommen, Wangen aufblasen, Muskeln demonstrieren und die Luft erschüttern durch furchterregende Reden über die Möglichkeit, den Gegner in radioaktiven Staub zu verwandeln.

Um so ein Führer zu bleiben, muss Putin möglichst wenig wirtschaftliche Entscheidungen treffen (sie bringen sowieso keinen besonderen Nutzen) und möglichst viel das tun, was Popstars tun, um ihre Popularität zu halten. Er muss Millionen T-Shirts mit seinem Porträt verkaufen. Er muss neue Lieder lernen und – wünschenswert – Tänze und alles, was dazu gehört, damit das Publikum das Interesse an seinem Idol beibehält. Er muss die Fernsehzuschauer und Zeitungsleser aller Gattungen mit unvermuteten Wendungen überraschen, mit neuen geflügelten Worten und allen möglichen originellen Allianzen – zum Beispiel mit den Bikern oder Tigerjungen.

Die Besonderheit Putins jetziger Lage besteht darin, dass er das Instrumentarium zur Aufrechterhaltung des Interesses an seiner Person nutzen muss, welches ein Star nutzt, der den Höhepunkt seiner Karriere bereits hinter sich hat und nicht dasjenige eines Stars im Aufwind. Das Alter schont leider auch niemanden von uns – jene eingeschlossen, die ihre Karriere auf Jugendlichkeit und sportlichem Elan bauen, auf der Demonstration tollwütiger Energie in Kombination mit einem entblössten Torso.

Mit der Zeit darf Putin weniger auf dem Bildschirm erscheinen, weil der Präsident von 2020 nur noch mit den Erinnerungen an den Präsidenten 2000 gewinnen kann. Aber die Imageberater werden das mit der Anwesenheit auf den T-Shirts kompensieren und auf all den Marketingartikeln, wo es ein Leichtes ist, auch als 70 Jähriger der Mann in vollster Blütezeit zu bleiben.

Es werden Filme über Putin herauskommen (immer mehr Spielfilme, mit jungen Schauspielern), Legenden über Putin (immer öfter ganz unwahrscheinliche, dafür intrigierende), Computerspiele, in denen Putin es ganz allein mit einer ganzen Bande internationaler Terroristen aufnimmt.

Der Künstler Nikos Safronov wird das Bild malen „Putin im Gespräch mit Mahatma Gandhi“. Der Historiker Wjatscheslav Nikonov wird mitteilen, wie ihm der Grossvater – Wjatscheslav Michajlowitsch Molotov – die Worte Stalins übergeben hat, die im engen Kreis am 7. Oktober 1952 gesagt wurden: „Putin wurde geboren. Nun bin ich beruhigt. Jetzt kann ich auch ins Mausoleum“ (und tatsächlich ist er in weniger als einem halben Jahr gestorben!). Und im Archiv der Familie Michalkov findet sich das Blatt mit dem letzten Meisterwerk des Hymnenschreibers Sergej Wladimirovitsch: „Stalin erzog uns zur Treue zum Volk,// Zu Arbeit und Heldentaten inspirierte er uns.//Und Putin zündete im Land die Flamme der Freiheit,//Und mit dieser Fackel erleuchtete er uns den Weg!“

Mister Putin ist unbestritten ein äusserst einflussreicher Mensch – im Einfluss auf die Gemüter. Die Leser des „Time Magazine“, wenn auch nicht bewusst, haben seinen Platz vor Lady Gaga und der übrigen Stars 2015 genau getroffen. In 15 Jahren wird diese komische Lady in Vergessenheit geraten sein, Rihanna wird nicht mehr kurze Röcke tragen, die dem Publikum den wertvollsten Teil ihres Talents zeigen. Der Dalai Lama wird sich wieder einmal verwandeln. Und Putin wird nach wie vor von T-Shirts an jeder Ecke schauen, einmal unter dem Slogan „höflichster Mensch der Welt“ oder unter dem geflügelten Wort „es reicht, den eigenen Sabber zu kauen“.

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