Das Pearl-Harbor-Risiko

  16 Mai 2017    Gelesen: 1147
Das Pearl-Harbor-Risiko
Kim Jong-un baut die strategische Angriffsfähigkeit seines Landes im Eiltempo aus. Mit dem jüngsten Raketentest rückt eine amerikanische Militärbasis in sein Fadenkreuz.
Guam ist ein Touristen-Traum. Über eine Million Besucher fliegen jedes Jahr die Tropen-Insel am südlichen Ende der Marianen-Inselgruppe an. Vor allem Japaner und Südkoreaner wissen das Taucherparadies mit seinen unberührten Korallenriffen zu schätzen. Höher in der Gunst der Pazifik-Urlauber liegt nur noch Hawaii. Die Ähnlichkeiten zwischen Guam und der weiter östlich gelegenen Inselkette beschränken sich nicht nur auf den Tourismus. Beide zählen zum Territorium der Vereinigten Staaten. Auf beiden unterhalten die Amerikaner große Militäranlagen. Und seit Sonntag ist für Guam ein Horrorszenario denkbar geworden, dass Hawaii bereits erlitten hat: Ein Überraschungsangriff mit dem Potential, die Vereinigten Staaten in einen Krieg zu führen.

Die Sorgen fußen auf Nordkoreas jüngstem Raketentest, über den die amtliche nordkoreanische Nachrichtenagentur KCNA am Montag berichtete. Die Armee habe am Tag zuvor eine „neu entwickelte ballistische Mittel-/Langstrecken-Rakete“ getestet, hieß es. Die Formulierung deutet darauf hin, dass sich die Schreiber Pjöngjangs offenbar selbst nicht sicher waren, wie sie das getestete Waffensystem vom Typ „Hwasong-12“ denn nun kategorisieren sollen. Eine Mittelstreckenrakete einerseits. Andererseits mit der größten Reichweite, die das abgeschottete Land je getestet hat. Den offenbar korrekten KCNA-Angaben zufolge erreichte das Geschoss eine Höhe von gut 2100 Kilometern und landete nach 787 Kilometern planmäßig im Japanischen Meer. Ausländische Experten gehen davon aus, dass die technisch mögliche Reichweite inzwischen deutlich höher liegt, bei 4500 Kilometern oder mehr. Damit rückt Guam ins Fadenkreuz.

Wie Hawaii ist Guam ein wichtiger Stützpunkt der amerikanischen Streitkräfte, deren Basen etwa ein Drittel der Insel einnehmen. Hier befindet sich mit der Andersen Air Force Base nicht nur ein strategisch wichtiger Umschlagsplatz für Nachschub und Truppen. Tausende Marines werden derzeit auf Guam stationiert. Die Streitkräfte sind der wichtigste Arbeitgeber vor Ort. Zahlreiche Bewohner sind pensionierte Soldaten. Für Nordkoreas Machthaber ist die Insel somit eine Ansammlung hochattraktiver Ziele. Für Washington ist das ein Zustand, der böse Erinnerungen an einen Alptraum hervorrufen dürfte.

Die westlichen Inselterritorien Amerikas im Pazifik sind so etwas wie der weiche Unterleib der Amerikaner. Schon einmal sorgte ein Überfall auf sie dafür, dass die Vereinigten Staaten in den Krieg zogen. Damals vernichteten japanische Marineflieger am 7. Dezember 1941 große Teile der in Pearl Harbor auf Hawaii vor Anker liegenden amerikanischen Pazifikflotte. Tausende Menschen wurden getötet. Wenige Tage später besetzten die Japaner Guam, das die Amerikaner erst im Juli 1944 nach schweren Kämpfen zurückerobern konnten.

Militärisch ist Amerika Nordkorea heute deutlich stärker überlegen als Japan vor über 75 Jahren. Doch bräuchte Kim Jong-un heute auch keine Flugzeugträgergruppe oder Kampffliegerverbände. Wissenschaftler sind sich sicher, dass er mit seinem Raketenprogramm mittlerweile einen ähnlichen Effekt erzielen könnte. „In der Theorie kann Kim Jong-un mit der Hwasong-12 ein zweites Pearl Harbor anrichten“, sagt Markus Schiller, Chef der Firma ST Analytics, einer Münchner Forschungs- und Beratungsfirma für Raketenfragen. Zwar dürfte es nach wie vor schwierig für Pjöngjang sein, ein Tausende Kilometer entferntes Ziel mit einer Mittelstreckenrakete zu treffen. Unmöglich sei es aber nicht. Und würden die Koordinaten stimmen, könne keines der beiden amerikanischen Raketenabwehrsysteme „Thaad“ und „Aegis“ hundertprozentigen Schutz bieten.

Die Gefahr eines offenen Konflikts dürfte der jüngste Test zudem auch ohne Abschuss befeuern. Eine reale Gefährdung amerikanischen Territoriums gilt für die Regierung in Washington als rote Linie, die Kim Jong-un nicht überschreiten darf. Bereits vor Ostern hatte die amerikanische Regierung durchblicken lassen, dass sie sich angesichts neuer Provokationen ein Präventivschlag gegen Pjöngjang vorstellen könne. Mit dem neuen Raketentest beweist Kim Jong-un, dass er zielstrebig an substantiellen Fortschritten hin zur Entwicklung einer Interkontinentalrakete arbeiten lässt. Damit erhalten die Falken im Umfeld Donald Trumps neue Nahrung.

Allein eine Gefahr dürfte für die Vereinigten Staaten noch eine Weile gering bleiben: Ein raketengestützter Angriff mit Atomwaffen. Der Ankündigung des nordkoreanischen Regimes, die Hwasong-12 heute schon nuklear bestücken zu können, schenkt Raketenforscher Schiller keinen Glauben. „So ein Sprengkopf muss klein genug sein, er muss exrtrem hoch beschleunigen und gewaltige Hitze beim Wiedereintritt in die Atmosphäre aushalten können.“ Es werde noch mindestens acht Jahre dauern, bis das Regime über nuklearbestückte Raketen verfüge, die abschussbereit in Silos bereitstünden.

Vorausgesetzt, die amerikanische Regierung will mit dem Risiko eines konventionellen Raketenangriffs bis dahin leben.

Quelle: FAZ.NET

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