Bürgerkrieg der Geschlechter

  05 Juni 2017    Gelesen: 1658
Bürgerkrieg der Geschlechter
Sie wollten wählen - und wurden ausgelacht: Fast achtzig Jahre lang hatten britische Frauen mit friedlichen Mitteln das Wahlrecht gefordert, ohne Erfolg. Anfang des 20. Jahrhunderts radikalisierten sich Teile der Bewegung und zogen in den bewaffneten Kampf. Auch unter Einsatz ihres Lebens.
Als sich die Rennpferde der Tattenham-Kurve näherten, duckte sich die 41-jährige Emily Davison unter der Absperrung durch und rannte auf die Strecke. Bis heute ist unklar, was genau sie dort wollte: eines der Pferde aufhalten? Einfach das Geläuf queren? Oder wirklich das "ultimative Opfer" bringen - ihr Leben geben, um eine politische Botschaft an den Mann zu bringen? Im Augenblick vor dem Aufprall soll sie "Suffrage!" geschrien haben - "Wahlrecht!"

Dann rannte der Hengst Anmer im vollen Lauf in sie hinein. Davisons Schädel brach, der Hengst überschlug sich, Jockey und Frau blieben reglos liegen. Das Pferd gehörte ausgerechnet dem britischen König George V. Der erkundigte sich am Tag nach dem Unglück besorgt nach Jockey und Pferd, beide waren wohlauf. Nach der Frau, die den Unfall verursacht hatte, erkundigte sich der König nicht. Für Davisons Gesinnungsgenossinnen bewies das einmal mehr, wie hartnäckig das Establishment ihr Anliegen ignorierte. Davison starb vier Tage später, am 8. Juni 1913. Auf ihren Grabstein schrieb man "Taten, nicht Worte".

Emily Davison ging als Märtyrerin in die Geschichte der britischen Suffragettenbewegung ein, die über Jahrzehnte für das Wahlrecht für Frauen gestritten hatte. Begonnen hatte alles als Bewegung engagierter, eher bürgerlich-wohlhabender Frauen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Später war aus dem Engagement Einzelner eine Bewegung geworden, die ihr Recht zunehmend wütend einforderte.

Ein Bürgerkrieg der Geschlechter: Wie hatte es so weit kommen können?

Der Streit ums britische Wahlrecht ist uralt. Seit 1432 durften in England nur Männer mit Grundbesitz und Vermögen wählen - ein Prinzip, das in schrittweise abgeschwächter Form bis 1867 Bestand hatte. Doch Frauen ignorierte man weiterhin, obwohl viele von ihnen seit etwa 1830 die Kampagnen für ein allgemeines Wahlrecht mitgetragen hatten.

Viele Frauen entdeckten in diesen Jahren, dass auch sie politisch etwas bewegen können. Als die britische Regierung 1864 ein bizarres Gesetz zum Schutz vor Geschlechtskrankheiten erließ, das sich ausschließlich gegen Frauen richtete, kam es zu einer bis dahin beispiellosen Protestbewegung. Die Frauen brauchten 21 Jahre, das Gesetz zu kippen - Zeit, in der Organisationen entstanden, von denen manche nach dem Erfolg ein neues Ziel suchten. Sie fanden es in der Forderung nach einem Frauenwahlrecht.

Sogenannte Suffragetten gehörten von nun an zur politischen Landschaft, jedoch ohne viel zu erreichen. Das männliche Establishment amüsierte sich über die lautstarken Forderungen, allein in der Labour-Bewegung fanden die Frauen Rückhalt. Als es für Labour aber um Fragen der Macht ging, knickte die Partei ein. Das sollte Folgen haben.

Bereits als Kind war Emmeline Pankhurst von ihren politisch aktiven Eltern in die Suffragetten-Bewegung eingeführt worden. 1898 gründete sie, inzwischen eine verwitwete mehrfache Mutter, in Manchester die Women's Social and Political Union (WSPU). Anders als andere Suffragetten setzte Pankhurst, unterstützt von ihren Töchtern, nicht nur auf eine rein weibliche Organisation, sondern auch auf völlig neue Methoden: Sie entwickelte Protestformen, die die Suffragettenbewegung in den Folgejahren prägen und sie zur Symbolfigur eines militanten Frauen-Widerstandes machen sollten.

Die WSPU: Der militante Flügel der Suffragetten-Bewegung

Suffragetten der WSPU waren nicht mehr zufrieden damit, mit Plakaten winkend freundlich zu demonstrieren. Sie ließen sich andere Dinge einfallen, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Sie ketteten sich an Zäunen und Gebäuden fest, organisierten Blockaden und unangemeldete Demonstrationen. Sie provozierten, um verhaftet zu werden, und schlachteten das dann öffentlichkeitswirksam aus.

Doch es reichte nicht, um grundsätzlich etwas zu verändern. Ab 1905 setzte eine Radikalisierung ein, und Pankhurst und die WSPU waren bereit, den Wütenden eine politische Heimat zu bieten. Frauen, die damit nicht einverstanden waren, gingen - darunter auch Pankhursts Tochter Sylvia. Doch die WSPU wuchs, die Suffragettenbewegung radikalisierte sich.

Pankhurst und ihre Mitstreiterinnen mobilisierten jetzt bis zu eine halbe Million Frauen in politischen Demonstrationen. Für das männliche Establishment war damit eine Grenze überschritten. Sie sahen in den lange verlachten oder ignorierten Suffragetten eine Bedrohung. Deren politische Nähe zu linken Bewegungen tat ein Übriges.

Mit zunehmender Gewalt versuchten die Behörden nun, die Bewegung einzudämmen: Am 18. November 1910, dem "Black Friday", knüppelte die Londoner Polizei eine Frauendemonstration mit Schlagstöcken nieder, es gab Verletzte. Immer öfter wurden Frauen außerdem von der Polizei verhaftet.

Spielen, um zu töten

Doch auch darauf hatte Pankhurst eine Antwort: Die WSPU-Frauen verweigerten in der Haft das Essen. Die Justiz reagierte mit Zwangsfütterungen per Schlauch durch die Nase - die Öffentlichkeit war schockiert.

Pankhursts Tochter Christabel hatte zu diesem Zeitpunkt die Führung der WSPU übernommen. Sie setzte sich nach Frankreich ab, um von dort die Kampagne zu koordinieren - mit durchschlagendem Erfolg. Im Mai 1912 flanierten rund 150 Frauen getrennt voneinander über eine Einkaufsstraße im Londoner Westend. Auf ein Signal hin zückten sie Hämmer und Steine und zerstörten sämtliche Schaufenster der Straße. Die Polizei inhaftierte 124 Frauen.

Auch Emmeline Pankhurst wurde mehrfach verhaftet und nahm an Hungerstreiks teil. Bilder zeigten anschließend, wie sie zwangsernährt wurde. Einmal entging sie der Tortur, indem sie drohte, sich den Nachttopf über den Kopf zu gießen. In der Öffentlichkeit wuchs die Irritation über Folter von Frauen.

Die Regierung reagierte mit dem Cat and Mouse Act von 1913. Dieses Gesetz zur zeitweiligen Haftentlassung aus gesundheitlichen Gründen war auf perfide Weise clever: Nun ließ man zu, dass die Frauen bis zur Erschöpfung hungerten. Dann entließ man sie, bis sie sich erholten - und verhaftete sie erneut. Die Zermürbungstaktik zielte darauf ab, der Bewegung den Garaus zu machen. Sie zeigte Wirkung, wenn auch eine andere: Jetzt stand die Autorität nicht mehr als Folterer da, sondern als vermeintlich human.

Die Antwort: Mehr Gewalt

Die WSPU antwortete mit mehr Gewalt. Seit 1912 hatten des Öfteren Briefkästen gebrannt. Jetzt berichteten Zeitungen über Suffragetten-Angriffe auf Privathäuser und Museen, wo Kunstwerke zerstört wurden. Häuser von Politikern wurden mit Steinen und Brandsätzen attackiert. Am 19. Februar 1913 explodierte ein Sprengsatz am neugebauten Haus des Schatzkanzlers und späteren Premierministers David Lloyd George. Der galt eigentlich als Sympathisant der Suffragetten-Sache, wurde seit 1905 aber als Verräter gesehen: Als Labour-Funktionär hatte er nicht auf die Durchsetzung des Suffrage gedrängt - und in Amt und Würden wenig dafür getan.

Jetzt brannten bald auch Geschäfte, öffentliche Gebäude und Kirchen. Eine Attacke auf Westminster Abbey scheiterte. In Emily Davisons Selbstmord schien sich eine weitere Eskalationsstufe anzukündigen. Emmeline Pankhurst beschrieb den Konflikt in ihrer wohl berühmtesten Rede "Freiheit oder Tod" im November 1913 nun nicht mehr als Kampf ums Wahlrecht, sondern als "Civil War", als "Bürgerkrieg von Frauen".

Es ist schwer zu sagen, wohin diese scheinbar unaufhaltsame Eskalation noch geführt hätte. Doch im August 1914 erklärte England dem Deutschen Reich den Krieg. Jetzt drohten andere Bomben, und Emmeline Pankhurst reagierte darauf anders als erwartet: Sie mobilisierte die WSPU-Frauen für die Waffenproduktion. Es war das abrupte Ende der militanten Suffragettenbewegung, der Konflikt ums Frauenwahlrecht wurde überdeckt vom Wahnsinn des Weltkriegs.

Der markierte in den meisten involvierten Ländern eine Zäsur, die die alte Ordnung in Frage stellte. Den Frauen in Großbritannien brachte das 1918 endlich das eingeschränkte Wahlrecht - ganz traditionell gebunden an Alter (über 30) und Besitz. Eine echte Gleichberechtigung im Wahlrecht erfolgte erst 1928. Emmeline Pankhurst starb zwei Wochen, bevor das Gesetz ratifiziert wurde.

Quelle : spiegel.de

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