FETÖ in den Augen der Bundesregierung

  12 Juni 2017    Gelesen: 2775
FETÖ in den Augen der Bundesregierung
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung, die sie derzeit unter Verschluss hält und über deren einzelne Aspekte sich dennoch der Chef des Bundesnachrichtendienstes Bruno Kahl aussprach? Wieso wird ein gesellschaftlicher Konsens in der Türkei von einem deutschen Innenminister oder BND-Präsidenten in Abrede gestellt?
Berlin / TP - Der gescheiterte Putschversuch in der Türkei in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 hat die türkische Gesellschaft trotz ihrer gespalteten Meinung zur Regierung zumindest beim Thema "FETÖ" und "PDY" vereint. Die anschließenden Sanktionsmaßnahmen und die Strafverfolgung der mutmaßlichen Putschisten und Mitgliedern der FETÖ/PDY durch Behörden und die Kritik daran, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kritiker im Land keineswegs die Mitverantwortung der FETÖ bzw. PDY infrage stellen, vielmehr die jahrelange Liaison der amtierenden Regierung mit der Gülen-Bewegung und die derzeitigen restriktiven Maßnahmen anprangern. Doch die Gülen-Bewegung und ihre Macht im Staat ist nicht das Produkt einer ausschließlich durch die AKP getragene Politik, schon zuvor wurde die Bewegung in der Politik hofiert und geschätzt, hat dazu beigetragen, dass das "Imperium" die Staatsmacht untergräbt.
Zum ersten Mal tauchte der Begriff "FETÖ" (Fethullahistische Terrororganisation) unter der Egide des islamischen Predigers Fethullah Gülen in Ermittlungsakten des Istanbuler Polizeipräsidiums Anfang Februar 2015 auf. Danach wurde der Begriff im Nationalen Sicherheitsrat im Juli 2016 erwähnt. Kurz darauf fand der Begriff auch im sogenannten Rotbuch des Nationalen Sicherheitsrates Platz - ein Buch in der die sicherheitspolitische Lage der Türkei aus Sicht der Regierung und der Sicherheitsorgane dargestellt wird und als Leitfaden für sicherheitspolitische Entscheidungen und Handlungen dienen soll.
Fethullah Gülen und das Gülen-Netzwerk wurden aber bereits Jahrzehnte zuvor als "gefährlich" eingestuft, zumindest in Polizeipräsidien des Landes, u.a. in Istanbul und Ankara. Die sogenannten Sicherheitsberichte der Polizeipräsidien wurden bereits in den 80er Jahren dem Nationalen Sicherheitsrat vorgelegt, ohne dass dabei zunächst etwaige sicherheitspolitische Maßnahmen ergriffen wurden. Auch das Militär klagte bereits Mitte der 80er Jahre über die Infiltration und ranghohe Polizeibeamte in Polizeiakademien warnten nach ihrem unfreiwilligen Abgang in eigenen Schriften vor dem Einfluss der Gülen-Bewegung im Polizeiapparat.

Hanefi Avci ist so ein ranghoher Polizeipräsident, der vor der Gülen-Bewegung Jahrzehnte zuvor warnte, dann mit der sogenannten "Ergenekon" in Verbindung gebracht und vom Generalstaatsanwalt Zekeriya Öz angeklagt wurde. Heute ist bekannt, dass die "Ergenekon" nie existierte, jedoch als Vorwand genommen wurde, um unliebsame Kritiker der Gülen-Bewegung hinter Schloss und Riegel zu bringen, darunter die Investigativ-Journalisten Ahmet Sik und Nedim Sener. Der damalige Generalstaatsanwalt Öz, der gegenwärtig seit seiner Flucht aus der Türkei in Deutschland Immunität genießt, hatte damals u.a. auch den Chefredakteur des Online-Nachrichtenportals OdaTV Soner Yalcin verhaften lassen, jenem Nachrichtenportal in der vormals Sik und Sener arbeiteten und auch über den ehemaligen Generalstaatsanwalt Ilhan Cihaner befragt wurden, gegen den ebenfalls wegen der "Ergenekon" ermittelt wurde und dieser danach in Untersuchungshaft saß.
Jeder der auch nur ansatzweise der Gülen-Bewegung zu nahe kam, verbrannte sich also die Finger, wie die Tageszeitung Vatan bereits 2008 bemerkte. Staatsanwälte wie Salim Demirci oder Nuh Mete Yüksel, die gegen Fethullah Gülen Ermittlungen anstrengten, wurden nur kurze Zeit später mit kompromitierenden Videos auf Youtube kaltgestellt. Der bekannte Buchautor Ergün Poyraz, der bereits 1999 Strafanzeige gegen Fethullah Gülen angestrengt hatte und auch in Büchern Kritik übte, wurde gar wegen einem Handgranaten-Fund in Ümraniye-Istanbul 2007 verhaftet und in Untersuchungshaft gesteckt. Die Liste jener, die durch kompromitierende Drucksachen, Aufnahmen, fingierten Beweisen oder Unterstellungen in Ungnade fielen, verhaftet oder weggesperrt wurden, ist lang, sehr lang. Bekanntestes Opfer: der ehemalige Vorsitzende der CHP, Deniz Baykal, der nach einem Video zurücktreten musste.
Obwohl innerhalb Teilen der Sicherheitsorgane das Bewusstsein da war, dass die Gülen-Bewegung sich in Militär, Polizei und Justizwesen nach Jahrzehnten bereits etabliert hatte, mit illegalen Abhörmaßnahmen, fingierten Beweismitteln, willkürlichen Verhaftungen Kritiker ausschaltete, so vermochte nicht einmal mehr die Justiz in diesen Wirren zwischen gut und böse zu unterscheiden. Ein Indiz dafür, dass die Gülen-Bewegung inzwischen derart an Macht besaß, dass nicht einmal mehr ranghohe Generalstaatsanwälte innerhalb der Staatssicherheitsgerichte die Macht besaßen, Ermittlungen anzustrengen, sich zu schützen - so wie Nuh Mete Yüksel.

In anbetracht dieser Tatsache klingt die Meinung des BND-Präsidenten Bruno Kahl vom 1. März 2017 gegenüber der Tagesschau wie Hohn und Spott zugleich, wenn er in der Gülen-Bewegung "eine zivile Vereinigung zur religiösen und säkularen Weiterbildung“ sieht. Zwar teilt die Bundesregierung die Äusserungen des Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes nicht, da angeblich das "Herausgreifen einzelner Informationssplitter ohne Berücksichtigung des bestehenden Gesamtlagebildes" nicht aufschlussreich wäre, doch die Aufnahme von Hunderten von mutmaßlichen Putschisten oder Gülenisten spricht eine deutliche Sprache. Jedenfalls wird sich die Bundesregierung weiterhin unangenehme Fragen gefallen lassen müssen: wieso sie z.B. Whistleblowern eine Abfuhr nach dem anderen erteilte, die sehr wohl politisch verfolgt wurden, jedoch türkischen Staatsbürgern, die in der Türkei von Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten gesucht werden, Asyl gewährt.
Der Bundesnachrichtendienst (BND), dessen Kernaufgabe es ist, zum Wohle des Staates zu agieren, arbeitet zwar sehr eng mit anderen Nachrichtendiensten, darunter mit dem türkischen Nachrichtendienst MIT, und ist auch auf Zusammenarbeit und Kooperation angewiesen - die nach eigenen Worten eine Geschäftsgrundlage darstellt - doch sie machte gerade bei den Listen, die die MIT dem BND übergab, eine Ausnahme: sie und weitere Sicherheitsorgane hielten mit den rund 350 Personen in den Listen, die von der MIT vertraulich an den BND übergeben wurden und in Zusammenhang mit der FETÖ stehen sollen, sogenannte Gefährdetenansprachen. Sprich, man warnte die mutmaßlichen verdächtigen türkischen Staatsbürger, sich in der Türkei blicken zu lassen oder ein türkisches Konsulat oder die Botschaft aufzusuchen.

Wurde damit die nachrichtendienstliche "Geschäftsgrundlage" einseitig ausser Kraft gesetzt, weshalb auch die Krise um den türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik entfacht wurde? Das scheint nach Meinung von Armağan Kuloğlu, General der türkischen Luftwaffen a. D., der Fall zu sein: "Die deutsche Unterstützung für die Terrororganisation FETÖ von Fetullah Gülen ist der größte Schadfaktor für die Beziehungen beider Staaten", sagte der General gegenüber dem russischen Nachrichtenportal Sputnik und verwies darauf, dass mehrere türkische Militärs nach dem gescheiterten Putschversuch politisches Asyl in Deutschland bekommen hätten. Die türkischen Auslieferungsbegehren seien von Deutschland allesamt abgelehnt worden.

So können sich nachwievor ehemalige ranghohe Justizbeamte in Deutschland in Sicherheit wiegen, werden ranghohe Offiziere im Rang eines Brigadegenerals oder Generalmajors ins Land gelassen, die nach gesicherten Erkenntnissen am Putschversuch beteiligt waren. Jene die sich nicht absetzen konnten, wurden festgenommen, so u.a. der frühere Chef der Sicherheitsabteilung der Istanbuler Polizei, der als Anhänger der Gülen-Bewegung erst vom Dienst suspendiert und dann entlassen wurde, dann während der Putschnacht in Istanbul aus einem Panzerwagen der Putschisten herauskroch und dabei gefilmt wurde.

Die unverhältnismäßig hohe Anzahl von ranghohen Militärs oder Juristen, die mit der Gülen-Bewegung in Zusammenhang gebracht werden, erklärt sich auch recht einfach: Viele von ihnen kamen in den letzten Jahren auf die Positionen, die frei geworden waren, nachdem die früheren Posteninhaber in den sogenannten Ergenekon-Prozessen verurteilt worden waren. Eben jene Offiziere, Polizeibeamte, Richter, Staatsanwälte, Journalisten oder Akademiker, die durch diese Bewegung mit Schauprozessen überzogen und aus ihren Positionen gedrängt wurden.

Gerade das erklärt auch, weshalb innerhalb der türkischen Parteilandschaft, angefangen vom linken bis rechten Spektrum niemand ernsthaften Zweifel daran hegt, dass die Gülen-Bewegung an dem Putschversuch beteiligt war, auch wenn man in der Frage der Verantwortung Einzelner sich manchmal uneins ist. Weder innerhalb der Republikanischen Volkspartei (CHP), in der derzeit der ehemalige Generalstaatsanwalt von Erzincan, Ilhan Cihaner, ein Mandat ausübt, noch Vertreter der nationalistisch-kurdischen Partei HDP, stellen die Mitverantwortung der FETÖ in Frage.

Auch in den türkischen Medien ist man überzeugt davon, dass die Gülen-Bewegung in der Türkei das politische, judikative und gesellschaftliche System korrumpiert und damit die Integrität des Staates und den Glauben an die Ordnung geschwächt hat. Die Journalisten Nedim Sener und Ahmet Sik sowie Soner Yalcin und viele andere mehr, die mit der Gülen-Bewegung auf Tuchfühlung kamen oder über sie berichteten, hegen keine Zweifel daran, dass der Führer dieses Netzwerks das Schicksal von Millionen Menschen negativ beeinflusst, ja sogar vernichtend gestaltet hat. Gerade das sitzt bei vielen Türken im Mark, die durch die massive Vorteilsnahme übergangen, in ihrer Zukunft maßgeblich beschnitten, ja sogar von schweren Schicksalschlägen heimgesucht wurden, da sie nicht die Kontrolle darüber hatten, weil die Gülenisten es beeinflusst hatten. Dieses Gefühl, die Erfahrungen vieler, die durch Gerichtsprozesse wegen ihrer Haltung zur Gülen-Bewegung oder gar nur wegen ihrer politischen Richtung weggesperrt wurden, die Erniedrigung durch Gülen-nahe Medien, so etwas wird noch lange Zeit die türkische Gesellschaft beschäftigen - wie auch die europäische Haltung, vor allem die der Bundesregierung sie jedesmal vor den Kopf stoßen wird.

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