Ein frischer Premier für das neue Irland

  14 Juni 2017    Gelesen: 526
Ein frischer Premier für das neue Irland
Lange galt Irland als konservativste Nation Europas. Doch das Land hat sich verändert - wie auch der neue Premier Leo Varadkar zeigt: Er ist jung, schwul und Halbinder.
Am Mittwoch bekommt Irland einen neuen Taoiseach (sprich: Tih-schock), wie der Regierungschef auf der Insel genannt wird. Enda Kenny übergibt das Amt an Leo Varadkar - den ungewöhnlichsten Premierminister, den die Republik jemals hatte: Der studierte Mediziner ist nur 38 Jahre alt, schwul und Halbinder.

Das klingt wie eine dieser Wahlentscheidungen gegen das Establishment, nach neuen Besen und politischem Umschwung: Auch optisch erinnert Varadkar an die neuen, jungen Politiker wie Kanadas Premier Justin Trudeau oder Frankreichs neuen Präsidenten Emmanuel Macron.

Wie bei ihnen löste auch die Nominierung von Varadkar in Irland gerade unter Jungen, unter Bürgerbewegten und Fortschrittsverfechtern Euphorie aus. Manche Hoffnungen wird er erfüllen wollen, aber grundsätzlich ist das ein Irrtum: Seit zehn Jahren Parlamentsmitglied, machte Varadkar in der konservativen Partei Fine Gael eine so zielstrebige wie steile Karriere. Nach seinem Einstieg wurde er 2007 direkt wirtschaftspolitischer Sprecher, schon 2011 übernahm er ein erstes Ministeramt.

Varadkar leitete das Verkehrsministerium, dann das Gesundheitsministerium, schließlich das Sozialministerium: In all diesen Funktionen trug er die zeitweilig drakonische Sparpolitik von Enda Kenny mit. Damit brachte dieser zwar das krisengebeutelte Irland wieder auf Kurs, machte sich selbst aber im eigenen Land unpopulär. Nach der jüngsten Wahl reichte es gerade so eben noch für eine auf Duldung basierende Minderheitsregierung.

Und Varadkar? Ihm gelang es erst 2015, sich abzusetzen und zu einem Liebling der Massen zu werden, als er sich mit an die Spitze der Kampagne für die sogenannte Homo-Ehe stellte. Dass er sich höchst souverän und völlig beiläufig in einem TV-Interview als schwul outete, sorgte in Irland für einen ähnlichen Effekt wie damals der Satz des Berliner Bürgermeisters Klaus Wowereit "Und das ist auch gut so".

Migrationshintergrund und Homosexualität sind kein Makel mehr

Aber Varadkar ist kein Minderheitenvertreter, kein Regenbogen-Aktivist. Die Homosexualität, sagte der Katholik in einem Interview, "definiert mich nicht". Das sah kürzlich auch der "Economist" so: "Was die Leute interessiert, sind seine Ideen".

Dass er irgendwann Regierungschef werden wollte, sagte man ihm seit Langem nach. Die Gelegenheit kam jetzt früher als gedacht: Kenny galt zuletzt als Risiko für die Partei, sollte es bald zu Neuwahlen kommen. Die angeschlagene Regierungspartei Fine Gael brauchte eine frische Führungsfigur. Sie fand Varadkar: Ambitioniert und clever, aber auch authentisch wirkend - man kann sich vorstellen, mit ihm ein Bier trinken zu gehen. Ein völlig neuer Typus Politiker für das höchste Amt in Irland.

Deshalb nominierte ihn seine Partei Anfang Juni nicht als Lückenfüller bis zu einer möglichen Neuwahl, sondern mit der Hoffnung auf einen Neustart.

Varadkars Migrationshintergrund und seine Homosexualität sind in Irland keine Makel mehr, die einen Aufstieg hätten behindern können. Sie zeichnen ihn gewissermaßen sogar aus, weil sie das Versprechen auf eine Regierung beinhalten, die an Mensch und Fortschritt orientiert ist.

Irland ist heute stolz auf seine Offenheit und Toleranz: Varadkar wirkt wie die Symbolfigur einer neuen irischen Normalität. Und das, obwohl er aus einer der zwei Parteien des alten Establishments kommt. "In diesem Land", rief Varadkar nach seiner Nominierung Anfang Juni der Menge in Dublin zu, die ihn auf Schultern trug, "haben Vorurteile keinen Platz mehr."

Neustart nach dem Sparkurs

Irland ist jetzt ein anderes Land als das, in dem er aufwuchs: Varadkar war 14 Jahre jung, als die Republik sich endlich entschloss, Homosexuelle nicht mehr hinter Gitter zu stecken. 1993 war das, und der Umbruch hatte gerade erst begonnen. Bis dahin galt die Republik als katholischer als der Vatikan. Bis 1996 akzeptierte der irische Staat beispielsweise Scheidungen selbst dann nicht, wenn der Papst persönlich die Ehe trennte. Wer erneut heiratete, machte sich strafbar.

Dann kam der wirtschaftliche Aufschwung, es folgten aber auch die Pädophilie-Skandale des mächtigen irischen Klerus, Enthüllungen über die Untaten des irischen Sozial- und Schulwesens und ein Ruck der Einsicht quer durch die Gesellschaft: Früher war absolut nichts besser. Aber es war Zeit, Dinge endlich besser zu machen.

Das Land schien auf einem guten Weg, doch dann kamen die Wirtschaftskrise und die rigorose Sparpolitik. Am Ende waren die Volksparteien Fine Gael und Fianna Fail nicht mehr mehrheitsfähig.

Varadkar soll die angeschlagene Partei wieder auf Kurs bringen. Man erwartet von ihm eine Politik, die sich den Menschen wieder mehr zuwendet. Und die Irland hilft, auch die letzten Altlasten seiner erzkatholisch-konservativen Vergangenheit zu überwinden.

Es ist damit schon weit gekommen. Noch 1994 ließ sich der spätere Taoiseach Bertie Ahern durch die Drohung, das Volk wolle wissen, wo sein Regierungschef nachts schläft, von einer ersten Kandidatur abbringen - er hatte seine Frau verlassen und lebte mit seiner Freundin zusammen. Scheidung war noch illegal.

Und heute? Weiß das Volk, wo der designierte Taoiseach schläft: Neben seinem Lebenspartner Matthew Barrett, Arzt wie er. Und natürlich regt sich kein Mensch darüber auf.

Quelle : spiegel.de

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