Erst wenn in allen drei Punkten "ausreichende Fortschritte" erzielt sind, wollen die anderen 27 EU-Staaten mit den Briten über die Beziehung nach dem Austritt reden, vor allem über den Handel. Doch daraus scheint vorerst nichts zu werden: EU-Chefunterhändler Michel Barnier hat Londons Vorschläge zur Zukunft der irischen Grenze scharf zurückgewiesen und neue verlangt.
Die britische Regierung hatte Mitte August ein neues Zollabkommen mit der EU vorgeschlagen, das Grenzkontrollen in Irland überflüssig machen soll. "Was ich in dem britischen Papier sehe, bereitet mir Sorgen", sagte Barnier am Donnerstag vor Journalisten in Brüssel. "Großbritannien will, dass die EU an ihrer künftigen Außengrenze ihre Gesetze, die Zollunion und den Binnenmarkt außer Kraft setzt", so der Franzose. "Das wird nicht passieren." Die britischen Vorschläge bezeichnete er als "eine Art Testlauf für die künftigen Zollbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU".
Das Misstrauen, so scheint es, sitzt tief. Wie tief, steht auf erfrischend offene Art im am Mittwoch veröffentlichten Protokoll der Sitzung der EU-Kommission vom 12. Juli. Präsident Jean-Claude Juncker zeigte sich demnach "besorgt über die Stabilität und Verantwortlichkeit" des britischen Chefunterhändlers David Davis und dessen "offensichtlichen Mangel" an direkter Beteiligung an den Verhandlungen. Heißt: Davis ist schlicht zu selten dabei. Barnier aber, erklärte Juncker, solle fundamentale politische Fragen keinesfalls mit Untergebenen von Davis besprechen, die kein politisches Mandat hätten.
Keine praktische Lösung für Irland-Problem in Sicht
Irland gilt als eines der kompliziertesten Themen in den Brexit-Verhandlungen, die an komplizierten Themen ohnehin nicht arm sind. In den vergangenen Jahren ist die Grenze auf der Insel praktisch verschwunden: Menschen und Waren können sie ungehindert überqueren, was ein wichtiger Teil des Friedensprozesses zwischen nationalistischen Katholiken und London-treuen Protestanten im ehemaligen Bürgerkriegsland Irland war.
Doch die britische Regierung lässt keinen Zweifel daran, dass sie mit dem Brexit auch den EU-Binnenmarkt und die Zollunion verlassen sowie die Reise- und Niederlassungsfreiheit beenden will. Zwischen Irland und Nordirland müsste damit eigentlich wieder eine Grenze mit Personen- und Zollkontrollen entstehen - was nach Befürchtung von Beobachtern massive wirtschaftliche Folgen haben und sogar wieder zu Gewalt führen könnte. Die Rückkehr zu einer harten Grenze gilt es deshalb unbedingt zu vermeiden, darin sind sich die britische Regierung und die EU einig.
Unklar ist, wie genau das gelingen soll. Barnier präsentierte am Donnerstag selbst ein Verhandlungspapier zu der irischen Frage, das aber nur politische Grundsätze und keine praktischen Lösungen aufzeigt. Diese seien Aufgabe Großbritanniens, heißt es - denn die Briten hätten die aktuelle Situation mit ihrer Entscheidung zum Brexit erst geschaffen. "Wir müssen uns zuerst über die politischen Prinzipien einig werden", so Barnier. Erst dann könne man über technische Lösungen reden.
Großbritannien steuert auf die Klippe zu
Doch die Zeit wird knapp. Am 29. März 2019 endet die britische EU-Mitgliedschaft - und sollte bis dahin kein Austrittsabkommen stehen, droht ein ungeregelter Austritt, der zu massiven wirtschaftlichen Schäden auf beiden Seiten, vor allem aber in Großbritannien führen dürfte. Um ein solches Szenario - in Großbritannien ist vom "Sturz von der Klippe" die Rede - zu verhindern, habe der britische Brexit-Minister Davis bereits eine Übergangsphase angeregt, sagte Barnier. Details habe Davis allerdings nicht genannt. "Wir warten auf eine Anfrage der britischen Regierung", sagte Barnier.
Sollte sie jemals kommen, wäre allerdings die Frage, ob die EU zustimmt. Zuletzt wurde ein Papier öffentlich, laut dem die britische Regierung die Einwanderung von EU-Bürgern unmittelbar nach dem Brexit massiv einschränken will. Dass die Briten unter diesen Umständen zugleich eine Übergangsphase bekommen, die ihnen weiterhin Zugang zum EU-Binnenmarkt gewährt, gilt in Brüssel als undenkbar.
Kaum Fortschritte gab es auch bei der Frage, welche finanziellen Verpflichtungen Großbritannien nach dem EU-Austritt erfüllen muss. Inoffizielle Schätzungen belaufen sich auf 40 bis 100 Milliarden Euro. Barnier pochte am Donnerstag erneut darauf, dass die Briten der EU Geld schulden. Der aktuelle EU-Etat läuft noch bis 2020 und wurde von London mitbeschlossen. "Man kann nicht 27 Staaten für das bezahlen lassen, was 28 entschieden haben", meint Barnier. Die britische Regierung habe zugesagt, zu ihren finanziellen Verpflichtungen zu stehen. Er sei "enttäuscht" darüber, dass sie sich zuletzt wieder davon zu distanzieren schien.
Die EU-Kommission veröffentlichte neben den Grundsätzen zur Irland-Frage am Donnerstag noch vier weitere Positionspapiere zu Einzelfragen. Insgesamt hat die EU damit 14 solcher Dokumente vorgelegt, Großbritannien elf. Letztere sind in Brüssel allerdings auf wenig Gegenliebe gestoßen. Er habe sie alle gelesen, sagte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker neulich. Aber "kein einziges stellt mich wirklich zufrieden".
Immerhin: Barnier erklärte sich bereit, zusätzliche Verhandlungsrunden anzusetzen. "Ich bin besorgt", sagte er, "und bereit, das Tempo zu erhöhen."
Quelle : spiegel.de
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