Spätestens seit der Bundestagswahl ist klar: Die Migrationspolitik Merkels hat das Land erschüttert und verwundet - und das in einer Boomphase der Wirtschaft, mit der es den Deutschen eigentlich so gut geht wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Die Verantwortung der Bundeskanzlerin für die Erschütterung der Republik ist offenbar - und die Wahlen in Österreich und Niedersachsen sind neue Menetekel.
Doch Merkel sieht in der demonstrativen Ruhe ihre Kraft und zieht ihre Pokerface-Strategie durch. Nach dem Wahldesaster am 24. September sagt sie: "Ich sehe nicht, was wir anders machen sollten." Zum Wahlsieg der konservativ erneuerten Schwesterpartei in Wien erklärt sie, das sei "nicht nachahmenswert". Zum schlechtesten Ergebnis der CDU in Niedersachsen seit 1959 kommentiert sie, das schwäche die CDU nicht. Sie gibt die Technokratin der Macht, die sich jetzt wie eine Notärztin um eine neue, schwierige Operation namens Jamaika zu kümmern habe. Kritik störe im OP Berlin nur und wird unterbunden; Selbstkritik gibt es nicht einmal im Ansatz.
"Das erinnert uns an die gespenstisch selbstgefällige Schlussphase von Helmut Kohl", sagt ein Spitzenpolitiker der CDU am Rande einer Veranstaltung in Berlin. Während SPD und CSU um offene Selbstkritik und Wahrheit ringen, poche sie nur auf ein stures "Weiter so", als sei nichts passiert. "Angela Merkel will sich nur selbst durchlavieren, die Partei ist ihr egal", heißt es aus der Fraktion. Doch es rumore in der Partei, gerade weil die Kanzlerin sich so verhalte.
Gegenwind vom Wirtschaftsrat
Nun hat der mächtige Wirtschaftsrat der CDU der Kanzlerin offen den Fehdehandschuh hingeworfen: "Der Schlüssel für die Niederlage in Hannover liegt leider im Berliner Wahlabend am 24. September, als man die verheerenden Verluste von über acht Prozentpunkten zu einem strategischen Sieg schöngeredet hat", sagt Generalsekretär Wolfgang Steiger. Steiger ist nicht irgendwer in der Union, er führt die 12.000 Mitglieder des Wirtschaftsrates, dahinter verbirgt sich das Who is who der deutschen Wirtschaft. Seine Worte sind daher für Angela Merkel ein Schlag ins Pokerface: "Die Wahlverlierer, die am Wahlabend gesagt haben 'Wir haben verstanden', haben jetzt in Hannover gewonnen. Diejenigen, die erklärten, sie hätten 'alles richtig gemacht', sind diesmal Verlierer."
Steiger sagt damit, was viele Unionspolitiker denken. Schon bei der Wahl des neuen Fraktionschefs kam es zu einer für CDU-Verhältnisse gefühlten Palastrevolte. Jeder vierte Abgeordnete verweigerte der Kanzlerin die Wahl ihres Getreuen Volker Kauder. Der Ärger über Kauder ist noch größer geworden nach dessen Vorstoß, man werde nun die Förderung ländlicher Gebiete zum zentralen Thema der Koalitionsverhandlungen machen. Kauder meinte, der Wahlerfolg der AfD habe mit dem dort "verbreiteten Gefühl" zu tun, "mehr und mehr abgehängt zu werden". Für CDU-Abgeordnete klingt das so, als würde man bei einem Regenguss den Teebeutel problematisieren, weil der ja auch nass sei.
Die CDU macht aus Sicht von immer mehr Abgeordneten mit der Verweigerung von Korrekturen den Eindruck, man merke gar nicht, was im deutschen Bürgertum wirklich los sei. Denn die Union habe nicht Millionen Wähler verloren und die Republik instabil werden lassen, weil der ländliche Raum mehr beachtet werden wolle. Der Wahlerfolg der AfD sei ein Protestschrei des Bürgertums wegen der Migrationspolitik. Die unkontrollierte Massenzuwanderung muslimischer junger Männer habe insbesondere die Wähler der Union schlichtweg schockiert. Und der Schock sei nicht verwunden.
"V"-Frage wird offen ventiliert
In der Union reift daher der Wunsch, es möge ein neuer Parteivorsitzender die wahren Ansichten der eigenen Klientel wieder offen und ehrlich artikulieren. "Es wäre wichtig, dass jetzt hier neue Impulse gesetzt werden, vor allen Dingen, damit die Partei jetzt nicht mehr aus dem Kanzleramt regiert wird", sagt der Vorsitzende der CDU-Gruppierung Freiheitlich-konservativer Aufbruch, Alexander Mitsch. Was anfangs noch eine Forderung weniger war, gewinnt inzwischen erstaunlich viele Befürworter: die Trennung von Kanzlerschaft und Parteivorsitz. So könnte sich Merkel aufs Regieren konzentrieren und ein neuer Mann der Partei ihre Seele zurückholen - ähnlich wie die SPD in den 1970er-Jahren zwischen Helmut Schmidt und Willy Brandt die Rollen verteilt habe. Insbesondere in den Landesverbänden in Hessen, Thüringen und Sachsen wird - wegen anstehender Wahlen - die "V-Frage" (nach einem neuen Vorsitzenden) offen ventiliert.
Die Idee der Ämtertrennung findet auch deswegen so viel Resonanz, weil schon seit Längerem wertkonservative, christliche, wirtschaftsliberale und patriotische Milieus mit der CDU fremdeln. Wer die Migrationspolitik der Kanzlerin aus Unionskreisen kritisierte, der wurde als Rechter und AfD-Sympathisant stigmatisiert. Oder wie Jens Spahn und Wolfgang Bosbach als Karriere-Egoisten gebrandmarkt.
Und so werden im politischen Berlin bereits Gespräche geführt, wer denn die CDU als neuer Vorsitzender am besten führen und ihr wieder ein Profil bescheren könnte. Am beliebtesten unter Mitgliedern wie Mandatsträgern wäre Wolfgang Schäuble. Da der aber als designierter Bundestagspräsident in eine überparteiliche Sphäre entschwindet (ein geschickter machtpolitischer Zug von Merkel, die damit einen latenten Konkurrenten neutralisiert hat), kommt er dafür nicht mehr infrage. Armin Laschet, Annegret Kramp-Karrenbauer und Ursula von der Leyen gelten zu sehr als Merkelianer. Es kommen daher vier Kandidaten ernsthaft infrage: Volker Bouffier, Julia Klöckner, Jens Spahn und Stanislaw Tillich. Alle vier sind auf Halbdistanz zu Merkel, loyal zur Partei und doch inhaltlich profiliert, insbesondere in der entscheidenden Migrationsfrage. Klöckner hat die höchsten Sympathiewerte, Tillich die größte Regierungserfahrung, Bouffier die stärksten Machtbande, Spahn die Chuzpe und besten Zukunftsoptionen.
Angela Merkel weiß, dass es in ihrer Partei rumort, dass der Ämter-Trennungswunsch kursiert und wächst. Sie wird versuchen, den Druck durch einen neuen, konservativeren Generalsekretär zu dämpfen. Sollte sie aber in der V-Frage freiwillig nachgeben, dann wäre das ein sicheres Indiz dafür, dass ihre Amtszeit herbstelt. Sie hat bei der Buchvorstellung einer Schröder-Biografie einmal im Beisein ihres Vorgängers erklärt, dass sie dessen Schritt, den Parteivorsitz als Kanzler abgegeben zu haben, als dessen größten Fehler angesehen und nie verstanden habe. Sie würde es also als den Anfang ihres politischen Ende betrachten. Genau das aber reizt zugleich die Merkelgegner in der eigenen Partei an der V-Frage.
Quelle: n-tv.de
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