Jörg Baberowski ist seit 2002 Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Experte für die Geschichte der Sowjetunion und des stalinistischen Terrors.
2012 erhielt der Historiker den Preis der Leipziger Buchmesse für „Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt“ in der Kategorie „Sachbuch/Essayistik“.
Herr Baberowski, welche Bedeutung hatte die Schlacht von Stalingrad für den weiteren Verlauf des Zweiten Weltkrieges?
Die Bedeutung der Schlacht von Stalingrad ist vor allen Dingen symbolischer Art. Die Schlacht von Kursk und die Landung der Alliierten auf Sizilien hatten wahrscheinlich eine viel größere, kriegsentscheidendere Bedeutung als die Schlacht von Stalingrad. Aber sie hatte eine große symbolische Bedeutung, weil die Wehrmacht zum ersten Mal eine Niederlage erlitt und damit klar war, dass die Rote Armee die Initiative gewinnen konnte, dass sie überhaupt Schlachten gewinnen konnte. Das war ein großer symbolischer Effekt, der zum Beispiel im besetzten Frankreich eine große Bedeutung hatte. Und in Deutschland musste man zum ersten Mal den Bürgern erklären, dass eine ganze Armee untergegangen war. Vor allem aber konnte man damit zeigen, dass das sogenannte Feldherrengenie von Hitler auf einer Einbildung beruhte.
Wie kam es denn zu dieser ersten Niederlage Hitlerdeutschlands?
Hitler hatte sich dazu entschlossen, die Stadt Stalingrad zu erobern, um den Weg zu den Ölfeldern des Kaukasus freizumachen und zu sichern. Er wollte die Stadt, die Stalins Namen trug, erobern. Das war ein großer Fehler, weil die Wehrmacht auf einen Straßenkampf in Städten überhaupt nicht vorbereitet war und weil die Offensive sich so weit verzögerte, dass der Winter eintrat und die Nachschublinien sich auf eine Weise erweiterten, dass die Armee nicht mehr versorgt werden konnte. Das war das Problem. Durch die Überdehnung der Fronten konnte die Wehrmacht diese Schlacht nicht mehr gewinnen.
Schlacht klingt eher nach zwei, drei Tagen. Dabei zogen sich die Kämpfe über mehrere harte Wintermonate hin.
Das Problem war, dass die Wehrmacht die Stadt nicht umging, sondern in sie hineinfuhr und die Rote Armee frische Verstärkung aus Sibirien und Zentralasien herbeiführen konnte und vom Steilufer der Wolga auf der anderen Seite die Deutschen beschießen und zermürben konnte in einem Häuser- und Straßenkampf, der sich über Monate hinzog. Die Deutschen machten einfach den Fehler, dass sie in der Stadt blieben, statt hinauszugehen. So konnte man sie im Grunde gut einkreisen.
Wie grausam war die Schlacht von Stalingrad?
Die Schlacht von Stalingrad war extrem grausam, weil sie über weite Strecken hinweg ein Kampf Mann gegen Mann war. Es war eben keine Materialschlacht, wie man sie sonst im Zweiten Weltkrieg kannte, sondern es war eine Schlacht, in der Haus um Haus zurückerobert wurde. In diesem Kampf wurden fast keine Gefangenen gemacht. Für die Rote Armee, die ein Mehrfaches an Opfern zu beklagen hatte als die Wehrmacht, war das einer der schrecklichsten Kämpfe des Zweiten Weltkrieges. Und die Überlebenden dieses Stalingrad-Kampfes bezeugen das auch, dass das eine Hölle war, dass diese Soldaten im Grunde eine ganz geringe Überlebenschance hatten. Ich glaube, die lag bei wenigen Tagen für einen Rotarmisten.
Wie ist das Verhalten des Oberbefehlshabers der 6. deutschen Armee in Stalingrad, Friedrich Paulus, zu bewerten?
Friedrich Paulus ist in Erinnerung geblieben als jemand, dessen Kadavergehorsam eine ganze Armee in den Untergang geführt hat. Alle führenden Generäle wussten, dass der Haltebefehl Hitlers dumm war. Paulus hätte sich diesem Befehl widersetzen können. Er hätte den Ausbruch aus dem Kessel sehr viel früher wagen können, und er wäre wahrscheinlich gelungen. Die Front hätte zurückgenommen werden können. Aber daran zeigte sich noch einmal, dass die deutsche Generalität Hitler zutiefst ergeben war und in einem absurden Kadavergehorsam jeden Befehl befolgte. Damit geht Paulus als jemand in die Geschichte ein, der diese Armee auf dem Gewissen hat, die er hätte retten können.
Welche Bedeutung hat Stalingrad im russischen Kriegsgedenken?
Im russischen Kriegsgedenken ist Stalingrad, glaube ich, der wichtigste Ort, weil es der erste große Sieg der Roten Armee war, einer der führenden Generäle Hitlers in Kriegsgefangenschaft geriet, und weil die Rote Armee aller Welt zeigen konnte, dass sie imstande war, zu siegen gegen eine überlegene und gut ausgebildete Armee. Deshalb hat man später die Schlacht um Stalingrad als einen Einigungsmythos für die Sowjetunion herausgestellt.
Man darf nicht vergessen, dass an der Schlacht um Stalingrad nicht nur Russen, sondern Ukrainer, Kaukasier, viele Usbeken und Kasachen beteiligt waren und man die Schlacht als eine Abwehrschlacht, als einen Sieg aller Völker der Sowjetunion herausstellen konnte. Deshalb hatte sie eine ganz große Bedeutung, um die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal neu zu gründen und den Gründungsmythos auf den Zweiten Weltkrieg zu beziehen.
In Russland finden gerade Gedenkfeierlichkeiten zum 75. Jahrestag von Stalingrad statt. Wie sollte Deutschland der Schlacht von Stalingrad gedenken?
Ich glaube, Deutschland sollte sich wieder darauf besinnen, wahrzunehmen, angesichts der Millionen von Toten und dieser großen Katastrophe, welche große Bedeutung dieses Ereignis im Leben und in der Erinnerung der Sowjetbürger hatte und hat. Man darf nicht vergessen, dass die Sowjetbürger wenig Anlass und wenig Grund hatten, mit Freude und Stolz auf ihr Leben zurückzublicken. Aber das war etwas, was sie selbst vollbracht hatten, ohne dass sie die Partei dafür um Erlaubnis bitten mussten.
Und die Leiden des Zweiten Weltkrieges sind wirklich unermesslich im Vergleich zu allen anderen Ländern, die am Zweiten Weltkrieg beteiligt waren. Das hat eine extrem große Bedeutung in Russland. Wer mit Russland in ein Gespräch kommen will, der muss einfach begreifen, welche Bedeutung das hat. Ich habe das Gefühl, dass das in den letzten Jahren aus dem Blick gelangt ist und man der russischen Politik einfach nur vorwirft, in militärischer und imperialer Nostalgie zu schwelgen. Aber die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg hat eben noch eine ganz andere Bedeutung, die, glaube ich, im Westen gar nicht mehr präsent ist.
Deutschland hat sich allgemein in den letzten Jahren immer mehr von den russischen Kriegsgedenkfeierlichkeiten zurückgezogen. Ist das angemessen, weil inzwischen so viel Zeit vergangen ist?
Nein, das finde ich ganz falsch, weil das doch etwas ist, was Russen und Deutschemiteinander verbindet. Es ist nicht so, dass es hier nur um Sieger und Verlierer geht. Vor dieser großen Katastrophe sind auch die Deutschen auf ganz besondere Weise betroffen. Das ist gerade eine Erinnerung, die man miteinander teilen kann. Das finde ich schade, dass diese Chance nicht ergriffen wird. Das wäre eine Gelegenheit und ein Anlass, um über die deutsch-russischen Gemeinsamkeiten nachzudenken. Und das geschieht gerade nicht.
Das finde ich schade, und das finde ich traurig. Vor allem aber ist es schade, dass das sowjetische Erbe völlig aus dem Blick gerät, indem so getan wird, als habe es die heutigen Nationalstaaten auf dem Territorium der Sowjetunion immer schon gegeben. Herr Gauck ist zum Jahrestag der Erschießung der Juden in der Schlucht von Babi Jar in die Ukraine gefahren und hat erklärt, dass Hitler im Juni 1941 die Ukraine überfallen habe. Es wird vergessen, dass diese Juden, die dort umgebracht wurden, sich nicht als Ukrainer, sondern als Sowjetmenschen gesehen haben. Das alles ist aus dem Blick geraten. Und das ist schade.
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