Der Tag, als Hitler Österreich untergehen ließ

  11 März 2018    Gelesen: 2090
Der Tag, als Hitler Österreich untergehen ließ

Vor 80 Jahren holte Hitler seine Heimat Österreich "heim ins Reich". Warum so viele Österreicher in Jubel ausbrachen und sich nach dem Krieg als die ersten Opfer fühlten, erklärt Historiker Oliver Rathkolb. Das Verhältnis der FPÖ zu Deutschland sieht er als "Trapezakt".

 

Tausende Menschen stehen mit Hakenkreuzfahnen am Wegesrand, jubeln der einmarschierenden Wehrmacht zu, skandieren "ein Volk, ein Reich, ein Führer": Als Adolf Hitler am 12. März 1938 in Österreich einzieht, um die "Ostmark" in Nazi-Deutschland einzugliedern, wird er begeistert empfangen. Wie der Wiener Historiker Oliver Rathkolb im Interview erklärt, werden einige Österreicher zu besonders eifrigen Tätern. Aber als der Krieg vorbei ist, sieht sich die neue Republik plötzlich als erstes Opfer Hitlers - um sich der Verantwortung zu entziehen, sagt Rathkolb. Mittlerweile hat das offizielle Österreich sich zur Mitschuld bekannt, aber noch immer gibt es Unklarheiten: Etwa über das Verhältnis der deutschnationalen Burschenschafter innerhalb der FPÖ zu Deutschland.

n-tv.de: Das große Nachrichtenmagazin "Profil" schreibt in seinem Anschluss-Heft vom "Tag, an dem Österreich unterging". Das ist merkwürdig: Als Hitler nach Österreich einzog, herrschte doch gar keine Untergangsstimmung, im Gegenteil. Hunderttausende jubelten ihm zu.

Oliver Rathkolb: Es gibt zwei Gründe, warum dieser hysterische Jubel ausbrach. Erstens hat die österreichische Gesellschaft seit 1919 quer durch alle Parteien den Anschluss gesucht. Die Sozialdemokraten waren Befürworter, selbst der Diktatorkanzler Kurt Schuschnigg erklärte in seiner Abschiedsrede, es dürfe kein deutsches Blut vergossen werden. Er sah sich primär als Deutscher - zwar als Kanzler Österreichs, aber kulturell gesehen als Deutscher.

Zweitens darf man nicht vergessen, dass die soziale und politische Situation vor 1938 in Österreich wesentlich schlechter war als im nationalsozialistischen Deutschland. Hitler hat mit seiner Rüstungspolitik und mit Zwangsmaßnahmen die Arbeitslosigkeit bekämpft. Selbst liberale amerikanische Ökonomen wie John Kenneth Galbraith in Harvard waren begeistert über dieses deutsche Wirtschaftswunder. Das hat auch in Österreich Eindruck gemacht.

Wollten die Österreicher also mehrheitlich "heim ins Reich", wie es die NS-Propagandamaschine ausdrückte?

Die Gesellschaft war sehr ambivalent. Zwischen 20 und 30 Prozent der Bevölkerung waren schon vor dem Anschluss aktive Nationalsozialisten, jeder fünfte Polizist arbeitete in der illegalen NSDAP mit. Ein Teil Österreichs befand sich also längst im Lager Hitlers.

Aber als am 9. März Kanzler Schuschnigg eine Volksbefragung für den 13. März über die Unabhängigkeit ansetzte, gab es drei Tage lang so etwas wie Demokratie in der Ständediktatur Österreich: Illegale Sozialisten, verbotene Kommunisten, Monarchisten und Anhänger von Schuschnigg warben mit Flugzetteln und Plakaten für die Unabhängigkeit von Deutschland.

Wo war diese Aufbruchsstimmung denn so plötzlich hin, als die Wehrmacht einmarschiert?

Die brach mit der Kapitulationsrede von Schuschnigg am 11. März 1938 im Rundfunk zusammen, als er sagte: "Wir weichen der Gewalt". Dem Bundesheer erteilte er die Anweisung, keinen Widerstand zu leisten. So zerplatzte diese kurzlebige demokratische Blase.

Zu den Jubelbildern rund um den "Triumphzug" Hitlers muss man aber auch sagen: Der wurde propagandistisch perfekt vorbereitet und inszeniert. Da ist kein Kamerawinkel Zufall. Typisch dafür ist das globale Bild von der Rede Hitlers am Heldenplatz von einer Art Führerbalkon aus - dabei ist das eine Art riesiger Terrasse. Aber die Inszenierung sorgte dafür, dass Hitler überhöht sichtbar wird.

Am Heldenplatz sagte Hitler: "Dies Land ist deutsch, es soll an Treue zur großen deutschen Volksgemeinschaft von niemandem jemals überboten werden". Es gibt Historiker, die sagen, in Österreich sei nach dem Anschluss alles schneller und brutaler vor sich gegangen - die Arisierungen, die Pogrome, die Verhaftungen. Stimmt das?

Es öffnete sich wirklich die Hölle, wie der Schriftsteller Carl Zuckmayer berichtete, der den Anschluss in Wien miterlebte. Zehntausende wurden sofort verhaftet, Juden und Jüdinnen wurden offen attackiert, wurden gezwungen, die Parolen für Schuschniggs Volksbefragung auf der Straße mit der Hand aufzuwaschen, es kam zu wilden  Arisierungen von Geschäften. Der katholische bis rassistische Antisemitismus der Österreicher explodierte innerhalb weniger Stunden. Das sind zwei Bilder, mit der sich die österreichische Gesellschaft noch heute auseinandersetzen muss: der hysterische Jubel beim Einzug Hitlers und das wirklich schändliche Verhalten gegenüber Juden und Jüdinnen auf allen Ebenen.

Schnell ging es auch, weil die bis dahin illegale NSDAP schon Fuß gefasst hatte in Österreich. Teilweise arbeiteten die Österreicher schneller als die neuen deutschen Herren, zum Beispiel an der Staatsoper, bei den Wiener Philharmonikern und am Burgtheater. Da existierten innerhalb weniger Tage schwarze Listen über Juden und Jüdinnen oder Menschen mit jüdischen Ehepartnern. Um Adolf Eichmann, der in Linz aufgewachsen ist, entstand eine Gruppe von SS-Männern aus Österreich, die in der Zentralstelle für jüdische Auswanderung an zwei Zielen arbeitete: den Juden und Jüdinnen möglichst viel Vermögen abzupressen und sie möglichst schnell zur Auswanderung zu drängen. Als "Wiener Modell" wurde das auch im Protektorat Böhmen und Mähren angewandt, insofern hatte das eine Art Vorbildcharakter.

Nach dem Anschluss wurden auch Österreicher zu Tätern - aber die offizielle Version der Nachkriegsrepublik lautete: Wir waren die ersten Opfer Hitlers. Haben die Österreicher diese Erzählung eigentlich selbst geglaubt?

Diese Frage sollte ein Psychologe beantworten. Aber wenn man sich die Zeitzeugenaussagen und Dokumente anschaut, wurde das schon so empfunden - wegen der Bombenangriffe, der Nahrungsmittelprobleme, der großen Flüchtlingswellen. Wenn Sie sich mal Rechtfertigungsschreiben von 1945 oder 1946 anschauen, da präsentieren sich Nationalsozialisten als völlig andere Menschen: Ich wurde doch aus dem Job geworfen, mein Haus ist zerbombt ... die vergessen ihre eigene Vorgeschichte. Eine Täter-Opfer-Umkehr, die sich gerade bei den Nazis verstärkte, die verhaftet und interniert wurden. Für diese Leute gründete sich 1949 eine eigene Partei, der VdU, ein Vorläufer der heutigen FPÖ. Der macht nichts anderes, als die ehemaligen Ariseure zu Opfern zu deklarieren. Es bleibt aber nicht auf den VdU beschränkt. Der erste Staatskanzler Karl Renner, ein Sozialdemokrat, hatte 1938 in zwei Interviews den Anschluss begrüßt. Und in seiner ersten Regierungsdeklaration nach dem Krieg hat er sich und die Gesellschaft zu Opfern erklärt und die Schuld auf die Deutschen und ein paar illegale Nazis geschoben. Man wollte sich exkulpieren, die Verantwortung ablegen.

Heute liegt die Opferthese ad acta. Aber einige Geister aus der Vergangenheit schwirren noch herum in Österreich - nehmen wir das unklare Verhältnis der schlagenden Burschenschaften zu Deutschland. Die Korporierten sind eine verschwindende Minderheit in Österreich, aber der zentrale Machtfaktor in der Regierungspartei FPÖ. Verkehrsminister Norbert Hofer, selber Burschenschafter, trägt schon mal eine schwarz-rot-goldene Schärpe. Sehen diese Leute sich immer noch als deutsch?

Das ist eine schwierige Frage. Die FPÖ fuhr schon unter Jörg Haider eine Doppelstrategie: Nach außen hin war es kein Problem mehr, österreichischer Patriot zu sein - obwohl Haider in den 80er Jahren noch von Österreich als "Missgeburt" gesprochen hat. Jetzt ist die FPÖ die Über-Österreich-Partei. Aber wenn man nach innen schaut, gerade im Bereich dieser deutschnationalen Gruppierungen, schaut die Welt anders aus. Vor ein paar Wochen gab es einen Skandal um Liederbücher mit antisemitischen Inhalten und Aufrufen zum neuerlichen Holocaust, die man bei Burschenschaften gefunden hat. Wenn man die Liederbücher studiert, wird klar, wie wichtig es nach wie vor ist, dieses Phänomen der deutschen Kultur zu pflegen. Nach innen hin sehen sie sich als Art nationale Elite, und die ist deutsch. Auch wenn die deutschen Wurzeln völlig konstruiert sind - man muss sich ja nur einige der Namen bei der FPÖ anschauen, da findet sich die typisch österreichische Melange. Ich weiß nicht, wie lange dieser Trapezakt gut geht. Irgendwann werden sie sich entscheiden müssen.

Die FPÖ hat als Reaktion auf den Skandal eine Historikerkommission angekündigt, um ihre Geschichte aufarbeiten zu lassen. Was gibt es denn da noch zu untersuchen?

Zur Geschichte der FPÖ wissen professionelle Zeithistoriker genug. Interessanter wäre eine Untersuchung zu den Burschenschaften. Dazu sieht sich die Kommission aber nicht in der Lage, weil es private Vereine seien. So kann das nicht funktionieren, denn das ist die zentrale Führungsgruppe in der FPÖ. Wenn die Burschenschaften und ihre, um es vornehm zu formulieren, völlig rückwärtsgewandte Geschichtsauffassung nicht untersucht werden, wäre das absurd. Was mich stutzig macht: Vor einigen Wochen wurden ein Kommissions-Vorsitzender und ein politischer Beirat präsentiert. Seitdem hört und sieht man nichts. Wenn sich das nicht ändert, war das alles eine politische Show - oder es zeigt, dass der aktuelle Vizekanzler und Chef der FPÖ Heinz-Christian Strache nicht imstande ist, die Kommission innerparteilich durchzusetzen.


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