"Mein Körper definierter als von Ausschwitzinsassen." Mit solchen Texten gewinnt man im Jahr 2018 den wichtigsten deutschen Musikpreis. Die Zeile stammt aus einem Track der Echo-Gewinner Farid Bang & Kollegah. Dann verprügelte am vergangenen Dienstag ein Flüchtling aus Syrien mitten in Neukölln einen jungen Israeli mit einem Gürtel, weil der eine Kippa offen trug. Die vergangene Woche markiert damit den traurigen Höhepunkt der Rückkehr einer längst überwunden geglaubten Schimäre: Antisemitismus.
Bei "Anne Will" diskutierten der ehemalige israelische Botschafter Shimon Stein, Unionsfraktionschef Volker Kauder, die Linken-Vorsitzende Katja Kipping, der Psychologe und Autor Ahmad Mansour und "Welt"-Chefredakteur Ulf Poschardt über Ursachen und Ausmaß des neu auflodernden Judenhasses - und suchten nach Wegen, dem Antisemitismus von Deutschen und Migranten zu begegnen.
Alle fünf Gäste ziehen dabei eigentlich am gleichen Strang. Und trotzdem tun sich bereits nach wenigen Minuten Gräben auf, weil offenbar schon das Wording schwierig ist: Als Volker Kauder von "jüdischen Bürgern" spricht, wirft Shimon Stein pikiert ein: "Jüdische Bürger!" Es ist diese Trennung zwischen "uns" und "den Juden", die immer noch tief in dieser Gesellschaft verwurzelt ist. Es fällt einem erst auf, wenn man den Spieß einmal umdreht: "Christliche Mitbürger", wie klingt das denn bitte?
"Ich wundere mich, dass man sich wundert"
Ahmad Mansour spricht dabei von einem tradierten, "weichen" Antisemitismus - der klar zu trennen sei vom "scharfen" islamistischen Antisemitismus, der vor allem in den vergangenen Jahren von arabischen Flüchtlingen aus ihrer Heimat mitgebracht wurde. Letzteres ist das Hauptthema der Runde, auch wenn Poschardt darauf hinweist, dass Antisemitismus "die gesamte politische Bandbreite" betrifft.
"Ich wundere mich, dass man sich wundert", sagt der aus Israel stammende Psychologe Mansour, der in seiner Jugend selbst überzeugter Antisemit war - und erst während seines Studiums in Tel Aviv die andere Seite kennenlernte. Gewalttätige Auswüchse wie der in Neukölln sind für ihn die logische Folge eines Teufelskreises aus Hass und tradierten Vorurteilen - ein Kreis, der nach Meinung des Psychologen nur durch Bildung und Aufklärung durchbrochen werden kann: "Wir müssen die antisemitischen Jugendlichen pädagogisch erreichen." Auch Linken-Politikerin Kipping fordert eine "andere Fortbildung und ein anderes didaktisches Material für die Lehrkräfte an den Schulen."
Dass sich aus den Ansätzen der beiden eine regelrechte Bildungsdebatte entwickelt, findet der ehemalige israelische Botschafter Stein weltfremd und am Kern der Sache vorbei. Denn "das fängt ja nicht erst in der Schule an. Diese Kinder haben auch Eltern." Stein findet, dass das Thema "zur Chefsache" gemacht werden müsste, ähnlich wie beim Dieselgipfel. Den Gesichtern der übrigen Gäste steht die Skepsis ob des recht gewagten Vergleichs ins Gesicht geschrieben, CDU-Mann Kauder ringt sich schließlich zu einer Antwort durch: "Angela Merkel wird sicher hören, dass das gefordert wird, aber dieser Dieselgipfel hat ja auch nichts gebracht."
Anne Will, die die Diskussion bis dahin auffallend teilnahmslos moderiert hat, horcht bei dem unerwartet ehrlichen Einwurf des Fraktionsvorsitzenden auf: "Ach nich? Na kiek ma!" Deutlicher könnte die Moderatorin kaum zeigen, dass sie an diesem Abend eigentlich am liebsten über ganz andere Themen reden würde. Und das ist ja dann auch irgendwie bezeichnend: Wenn schon Will in ihrer eigenen Sendung keine rechte Lust hat, sich dem Thema leidenschaftlich anzunehmen, wer soll es dann tun?
n-tv
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