Es ist keine ganz alltägliche Begegnung an diesem Samstag in Karlsruhe. Sandra Schlensog trifft sich mit Gesundheitsminister Jens Spahn. Die 40-jährige Hartz-IV-Empfängerin ist gespannt, ob der CDU-Politiker ihre Forderung annimmt, aber dazu später mehr. Die Ursache ihrer Verabredung ist ein Streit, der vor einigen Wochen begann und die Republik seitdem beschäftigt. Ein Blick zurück.
Begonnen hat alles am 10. März. An diesem Tag gibt Spahn der Funke-Mediengruppe ein Interview. Es geht um die Tafeln und um die Debatte über Ausländer, die in Essen von der Verteilung ausgeschlossen werden sollten. Mit Hartz IV habe "jeder das, was er zum Leben braucht", sagt Spahn in diesem Zusammenhang und: "Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut." Selbst Parteikollegen kritisieren seine Sätze als unsensibel. Es ist kurz vor Spahns Vereidigung. Er ist einer von 16 Ministern im neuen Kabinett der Kanzlerin.
Sandra Schlensog ist zu diesem Zeitpunkt eine von etwa sechs Millionen Hartz-IV-Empfängern in Deutschland. Die gelernte Bürokauffrau wurde auf Usedom geboren, ist seit fünf Jahren arbeitslos und wohnt in Karlsruhe als alleinerziehender Mutter mit ihrem zehnjährigen Sohn. Die beiden leben im Monat von 950 Euro plus Kindergeld. Sie ärgert sich sehr über das, was Spahn sagt, findet es unfair und respektlos. "Das war Zynismus pur", sagt sie im Gespräch mit n-tv.de. Schlensog ist in einer schwierigen Lage, als Spahns Äußerungen sich über die Medien verbreiten. Nach fünf Jahren war sie eigentlich schon fast raus aus Hartz IV, aber am letzten Tag der Probezeit verlor sie im Februar ihren Job.
"Dann gehen wir beide einen Kaffee trinken"
Schlensog ärgert sich so sehr über Spahn, dass sie eine Online-Petition startet. Hartz IV bedeute nicht Armut? Dieser Satz habe ihr wehgetan, schreibt sie darin. Sie will nicht als Schmarotzerin abgestempelt werden und fordert den Minister heraus, für einen Monat vom Hartz-IV-Regelsatz von 416 Euro zu leben. "Dann gehen wir beide einen Kaffee trinken und unterhalten uns noch einmal darüber, was Armut bedeutet", mit diesem Satz endet die Petition. Schlensog hat noch keine Ahnung, was sie damit auslöst. "Ich habe gedacht, es ist schon gut, wenn ich ein paar Leute zum Nachdenken bringe." Es werden dann doch etwas mehr.
Denn das Echo ist riesig. Am nächsten Tag berichtet die "Tagesschau" über ihre Petition. Die hat nach zwei Tagen schon 70.000 Unterschriften. "Da war ich plötzlich mittendrin und musste schwimmen lernen", sagt Schlensog rückblickend und muss lachen. Anfangs sei sie überfordert gewesen, aber inzwischen behagt ihr die ungewohnte Rolle spürbar. Für viele Medien ist sie fortan die "Hartz-IV-Rebellin der Republik". Ein paar Tage später: Vor der Tür von Schlensogs Wohnung steht ein Team von Stern TV mit dem früheren Arbeitsminister Norbert Blüm. In dem Moment klingelt ihr Telefon. "Hier ist Jens Spahn", sagt der Anrufer. Schlensog ist kurz sprachlos. "Ja, nee, ist klar", entgegnet sie ungläubig. Sie glaubt, dass sie jemand veralbert, merkt dann aber: Es ist tatsächlich Spahn. "Ich war komplett überfordert, damit hätte ich ja nie gerechnet."
Die beiden telefonieren fünf Minuten. Es sei ein gutes Gespräch gewesen, "auf Augenhöhe", sagt Schlensog. Spahn habe interessiert geklungen. Er lobt, dass sich jemand für etwas stark mache, und regt ein Treffen an. Ein paar Tage später sitzt Jens Spahn bei "Hart aber fair". Bis dahin haben die Medien Schlensogs Nachnamen abgekürzt. Ihr selbst ist das nur recht, denn sie will lieber anonym bleiben. In der Sendung nennt Spahn erstmals ihren ganzen Namen. Sie ärgert sich, schluckt den Ärger aber schnell runter. "Ich habe es einfach hingenommen, es war ja eh nicht mehr zu ändern."
Aufgeregt? "Nein"
Schlensog bereitet sich auf die Begegnung mit Spahn vor. Die soll anonym und unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, der genaue Ort geheim gehalten werden. Anschließend will sie dem Politiker auf einer Pressekonferenz die Petition erreichen, die bisher mehr als 190.000 Menschen unterschrieben haben. Aufgeregt ist Schlensog noch nicht, das sagt sie zumindest. "Ich bin jemand, der sich erst verrückt macht, wenn es so weit ist." Je mehr Aufwand sie vorher betreibe, desto kirrer werde sie, sagt Schlensog. Sie will Spahn einen Hartz-IV-Antrag zeigen und ein Carepaket, was man als Bezieher am Ende eines Monats so brauche. Ihr ist es wichtig, die persönliche Ebene zu treffen.
Schlensog fände es toll, wenn Spahn den Fehdehandschuh aufnehmen und sich drauf einlassen würde, einen Monat vom Hartz-IV-Satz zu leben - obwohl sie weiß, dass das in seinem Alltag schwer umzusetzen sein wird. Dennoch kann sie sich vorstellen, dass Spahn mitmacht, es sei schließlich eine gute Möglichkeit, sich zu profilieren. Schlensog will dem Minister gegenüber außerdem Änderungswünsche am deutschen Sozialsystem anregen. Sie fordert ein Ende der Sanktionen, kritisiert die Anrechnung des Kindergelds und verlangt eine Erhöhung des Mindestlohns, damit nicht mehr so viele Menschen aufstocken müssten.
Wenn sie auf die zurückliegenden Wochen schaut, ist Schlensog beeindruckt. "Es imponiert mir, was man erreichen kann und dass man mit einer Petition so weit kommen kann. Jeder kann seine Stimme nutzen", sagt sie. Das Thema Hartz IV sei lange Zeit weg gewesen, jetzt werde eine offene Debatte darüber geführt. Auch wenn sie kein Privatleben mehr habe, sei das ein Riesenerfolg. Nicht nur viele Medien klopfen bei ihr an, auch verschiedene Organisationen und auch die Partei Die Linke haben Interesse. So etwas fresse viel Zeit und eigentlich wolle sie ja möglichst schnell wieder arbeiten, sagt Sandra Schlensog. Sie hat noch etwas Zeit, um zu überlegen, wie es weitergeht - jetzt trifft sie erst einmal Jens Spahn.
Quelle: n-tv.de
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