Der israelische Premierminister Netanjahu wohnt gemeinsam mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin der Siegesparade auf dem Roten Platz bei und umrahmt seinen Besuch in Moskau mit mächtigen Raketenschlägen gegen Syrien – so mächtig wie seit dem Krieg 1974 nicht mehr. Wenige Tage später, zum 70. Jahrestag der Staatsgründung Israels (14. Mai 1948), verlegt Trump wie seit langem versprochen die US-Botschaft endgültig nach Jerusalem, womit er die Stadt de facto als israelische Hauptstadt anerkennt. Dies provoziert Massenunruhen im palästinensischen Gaza: israelische Soldaten schießen auf die Demonstranten, mehr als 50 Menschen sterben, mehr als 2000 weitere werden verletzt.
Dieses Gemetzel ist jedoch nur der Anfang dessen, was folgen könnte. Denn der Tag nach dem Jahrestag der Staatsgründung erinnert an die Vertreibung von 700.000 palästinensischen Flüchtlingen im Palästinakrieg 1947-49. Für die Palästinenser ist das der Tag der Nakba – zu Deutsch: der Katastrophe.
Dass der Iran heute erstarkt und der „schiitische Bogen“ sich weitet, erfüllt die Israelis mit großer Sorge. In solchem Zustand sind Menschen zu vielem fähig. Der Zeitpunkt für eine Eskalation ist auch passend: Eine ernste Wendung könnten die Ereignisse während oder kurz vor der Fußball-WM nehmen.
Was man außerdem in die Überlegung einbeziehen und wo man sich diesbezüglich keine unnötigen Illusionen machen sollte, ist der Umstand, dass eine Entspannung im Nahen Osten schon vom Grundsatz her nicht möglich ist. Auch Trumps Versprechen, die Region zu verlassen, sollte man nicht allzu viel Beachtung schenken. Und schlussendlich gilt es zu verstehen, dass die aktuellen Ereignisse keine zufällige Zuspitzung eines uralten Konfliktes, sondern eine planmäßige Umsetzung geopolitischer Pläne sind.
Und deshalb wird der Hergang der Ereignisse nicht mehr vom Willen Trumps oder Netanjahus diktiert. Die Ereignisse selbst reißen die beiden Politiker mit, wie ein Erdrutsch, eine Naturkatastrophe, die jedoch auch einer Logik folgt. Diese mag zwar verwickelt sein, doch auch wieder nicht so, dass man sie nicht durchschauen und auf einige griffige Thesen bringen kann.
Es ist nämlich so, dass das „Projekt Israel“ in einem gewissen Format vollendet werden muss, damit es eine robuste Überlebensfähigkeit erreicht. Wie dieses Format auszusehen hat, ist an sich kein Geheimnis, kann doch jede jüdische Enzyklopädie darüber Aufschluss geben: Die natürlichen Grenzen des Landes Israel (Eretz Israel) umfassen, wie solche Nachschlagewerke angeben, außer dem Staatsgebiet des heutigen Israels auch die Halbinsel Sinai, den Libanon, Teile Syriens bis zu den südlichen Zuflüssen des Euphrats, einschließlich der syrischen Mittelmeerküste, und Teile des heutigen Jordaniens. Von den religiösen, politischen und geopolitischen Gegebenheiten Israels ausgehend ist dieser Grenzverlauf nicht nur erstrebenswert, sondern geradezu lebensnotwendig. Vor allem in diesen „natürlichen Grenzen“ kann sich das Land sicher und geborgen fühlen.
Von 1904 an erklärte Theodor Herzl, Gründer und erster Vorsitzender der Zionistischen Weltorganisation: „Der Judenstaat muss die Gebiete vom ägyptischen Fluss Nil bis zum Euphrat umfassen“. So stellte sich die zionistische Bewegung das Land Israel vor, als sie – von der Balfour-Deklaration beseelt – auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 ihr Projekt der Gründung eines jüdischen Nationalstaates „innerhalb der natürlichen und historischen Grenzen des Eretz Israel“ vorstellte.
amals stießen die Zionisten jedoch auf den mächtigen Widerstand Englands, Frankreichs und der arabischen Welt: Mit der Aufteilung des Nahen Ostens beschäftigt, schnitten Engländer und Franzosen emsig Ägypten, Irak, Libyen und Syrien in Stücke. Als Israel nach dem Zweiten Weltkrieg nun endlich gegründet wurde, konnten dessen tatsächliche Grenze die religiösen Gefühle und nationalen Ambitionen der Juden nicht mehr befriedigen. 1950 sagte der israelische Premierminister David Ben-Gurion im Gespräch mit Studenten der Universität Jerusalem: „Ihr müsst unbeirrbar und unablässig – wie auf Schlachtfeldern so auch an der diplomatischen Front – für die Gründung des Königreichs Israel kämpfen, welches alle Gebiete vom Nil bis zum Euphrat einschließen soll“. Alle nachfolgenden Kriege führte Israel, damit diese Grenzen endlich wahr werden.
Irgendwie außergewöhnlich oder besonders ist dieser Großmachtgedanke nicht: das Persische, Osmanische, Russische Reich, Großpolen, Frankreich, England, die USA – viele Länder, die etwas auf sich halten, streben danach, sich bis an ihre „natürlichen Grenzen“ und vielfach auch darüber hinaus, auszuweiten. Das Problem besteht nur darin, dass es Israel im Unterschied zu anderen heutigen Staaten, deren „Großmachtstreben“ durch „demokratische“ Prinzipien aktiv unterdrückt wird, erlaubt ist, die Idee eines „Großisraels“ zu propagieren. Aber natürlich nur im engsten Kreis: Weder Premier Netanjahu noch Verteidigungsminister Lieberman würde je vom Rednerpult aus solche Ideen verkünden. Schließlich ist deren Umsetzung nur durch Kriegsführung möglich.
Der Verwirklichung dieser Pläne gilt auch die Strategie der US-amerikanischen Neocons des vergangenen Vierteljahrhunderts. Wie auch immer dieses Konzept bezeichnet wurde – ob „Defragmentierung von Nahost“, „Schaffung einer für die Demokratie ungefährlichen Welt“, „Bestrafung von Aggressoren oder Tyrannen“ – sein Wesen blieb stets dasselbe: die Schaffung eines Israels innerhalb seiner „natürlichen“ Grenzen, das in der Region dominieren und die arabischen Völker kontrollieren würde. Übrigens: Warum diese Strategie für die Araber (die Türken und die Perser) inakzeptabel ist, lässt sich bestens im Gazastreifen beobachten.
Offenbar geht der Plan, in dessen Umsetzung die Neocons so viel Zeit und Kraft investiert haben, in seine heiße Phase über. Es ist wichtig zu verstehen, welchen Stellenwert für Israel und die USA die Zerschlagung der „teuflischen Achse Syrien-Iran-Hisbollah“ hat. Während Israel die Vernichtung des Irans und seines schiitischen Bogens braucht, um einen politischen Konkurrenten zu beseitigen und den Nahen Osten zu dominieren, so brauchen die USA die Vernichtung der unnachgiebigen Perser vor allem, um die Kette ihrer Militärbasen zu schließen, die sich durch die Türkei, Irak, Afghanistan und Pakistan zieht, um dadurch eine geopolitische Mauer gegen Russland und China hochzuziehen.
Die Vollendung dieser Mauer würde es den USA ermöglichen, Russland durch die Destabilisierung Zentralasiens und des Kaukasus endgültig aus der großen Welt zu verdrängen und dessen Südgrenzen in loderndes Chaos zu verwandeln. Geben wir uns also keinen Illusionen hinsichtlich des Friedens in Nahost hin. Es wird dort keinen Frieden geben, sondern ein großes geopolitisches Spiel, einen Zusammenprall, bei dem Russland mäßigend auf das Chaos einwirken kann, indem es die richtige Strategie verfolgt und die richtigen Bündnisse eingeht.
sputnik.de
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