Es gebe „echte Unstimmigkeiten“ zwischen den USA und den übrigen Nato-Ländern, heißt es in einem Brief des Nato-Generalsekretärs an die britische Zeitung „The Guardian“. „Dort, wo Unstimmigkeiten weiterbestehen, müssen wir jeden negativen Einfluss auf unsere Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich begrenzen“, schreibt er.
Stoltenberg ist derzeit zu Besuch in London. Dort trifft er sich mit der britischen Premierministerin Theresa May, dem britischen Verteidigungsminister Gavin Williamson und dem Außenminister Boris Johnson. Die Unstimmigkeiten, von denen er in seinem Brief spricht, seien echt. „Und sie werden so schnell nicht verschwinden.“ Es habe niemand irgendwo garantiert, dass die „transatlantischen Beziehungen ewig florieren“ würden. Die USA und die anderen Nato-Mitglieder seien sich in Fragen des Handels, des Klimawandels und des iranischen Atomdeals uneins. „Aber das heißt nicht, dass der Zerfall des Bündnisses unvermeidbar ist. Wir können es mit all den gegenseitigen Vorteilen erhalten, die wir daraus ziehen“, so Stoltenberg.
Der Brief, in dem der Nato-Generalsekretärs offen davon spricht, dass die Allianz in ihrem Bestehen gefährdet ist, kommt in einer für das Bündnis in der Tat sehr schwierigen Zeit. Die Gegensätze zwischen den Staats- und Regierungschefs der westlichen Länder verschärfen sich. Die Ausfälle Donald Trumps gegen seine westeuropäischen Kollegen und Kolleginnen geben ein klares Bild davon, wie es um das transatlantische Verhältnis steht. Als er den Beschluss seines Kabinetts, Einwandererkinder von ihren Eltern an der mexikanischen Grenze zu trennen, verteidigte, setzte Trump Europa einem Flüchtlingslager gleich und erklärte, das deutsche Volk rebelliere gegen seine Kanzlerin und ihre Politik der offenen Tür.
Aber auch wenn man von der scharfen Rhetorik absieht, sind Gegensätze zwischen Washington und den Regierungen europäischer Nato-Länder reichlich vorhanden. Seien es das Klima- oder das Atomabkommen mit dem Iran, aus denen Amerika einseitig ausgestiegen ist, oder der Handelskrieg, den Donald Trump Europa androht. Überdies kritisiert der US-Präsident Deutschland und andere Nato-Mitglieder heftig und häufig dafür, dass sie zu wenig für Rüstung ausgeben und die Last der Militärausgaben den Vereinigten Staaten auferlegen würden.
Unter Trumps Druck haben sich alle Mitglieder der Allianz verpflichtet, ihre Rüstungsausgaben bis 2024 auf zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts zu heben. Derzeit erfüllen nur 8 der 29 Nato-Mitglieder diese Forderung, die USA und Großbritannien eingeschlossen. Die Bundesrepublik gab letztes Jahr 37 Milliarden für Verteidigung aus – 1,2 Prozent der Wirtschaftsleistung. „Sie werden es bereuen“, sagte der US-Präsident letzten Monat auf die Frage, was er von den Ländern halte, die sich auf Kosten der amerikanischen Steuerzahler schützen.
Die gerechtere Verteilung der Ausgabenlast wird das bestimmende Thema des kommenden Nato-Gipfels sein, der vom 11. bis 12. Juli in Brüssel stattfindet. Zudem will Jens Stoltenberg den Kampf gegen den Terror intensivieren und die Fähigkeit der Allianz stärken, ihre Truppen schnell in Gefechtsbereitschaft zu versetzen und an den richtigen Ort zu verlegen. Die Nato müsse bis 2020 in der Lage sein, 30 mobile Verbände, 30 Geschwader und 30 Kriegsschiffe innerhalb von 30 Tagen völlig einsatzbereit zu haben. Als Maßnahme zur Terrorbekämpfung soll die Nato ihr Ausbildungsprogramm für die afghanische Armee verlängern und weitere Gelder bereitstellen, um den Einsatz des Nato-Kontingents in Afghanistan bis 2024 auszudehnen.
Dass Trumps Absicht, weiter Druck auf die Verbündeten auszuüben, sich wie ein roter Faden durch den kommenden Nato-Gipfel ziehen wird, dürfte inzwischen allen klar sein. Doch statt den US-Präsidenten für seine Erpressungspolitik gegenüber den Partnern zu kritisieren, lobt der Nato-Generalsekretär Stoltenberg den Chef im Weißen Haus. Zu erklären ist diese Haltung wohl durch den plötzlichen Sinneswandel Donald Trumps, der nunmehr beteuert, die USA würden nicht aus der Nato aussteigen. Vor gerademal einem Jahr hat der amerikanische Präsident die nordatlantische Allianz noch für veraltet und überflüssig erklärt. Andererseits wird kolportiert, Trump habe neulich, als er den G7-Gipfel in Kanada verließ, den Vertrag über die Nato-Gründung als einen der größten Fehler Amerikas bezeichnet.
In seinem Brief an die britische Zeitung erklärt Jens Stoltenberg jedenfalls: „Die USA und Kanada verstärken ihre Mitwirkung an der Sicherheit Europas. Seit die Trump-Regierung im Amt ist, hat sie die Ausgaben für die Stationierung amerikanischer Truppen in Europa um 40 Prozent erhöht.“ Der Nato-Generalsekretär ist der Ansicht, die USA und ihre Verbündeten müssten die gegenwärtigen Unstimmigkeiten überwinden und einsehen, wie notwendig eine gemeinsame Haltung angesichts der derzeitigen Gefahren in der Welt sei.
Unter den Gefahren, die der Menschheit auflauern – der internationale Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Hackerangriffe – darf die Bedrohung durch Russland natürlich nicht fehlen: Ohne sie kommt derzeit kein Treffen westlicher Politiker aus, beschuldigt der Westen Russland doch der Aggression und der Einmischung überall auf dem Globus – außer vielleicht in der Antarktis.
Unterdessen warnen die Experten der Washingtoner Denkfabrik „Atlantic Council“, der kommende Nato-Gipfel könne in einer völligen Katastrophe enden, und die Verantwortung dafür werde auf dem US-Präsidenten lasten. Trump könnte den Gipfel dazu nutzen, jenen Schaden auszubügeln, den er beim G7-Gipfel angerichtet habe – oder Washingtons Verbündete weiter angreifen. Er könnte den Umstand schlicht und ergreifend ignorieren, dass etliche Nato-Mitglieder bereits Maßnahmen ergriffen haben, um Washingtons Forderungen nachzukommen. Der kommende Gipfel könnte die politische Einheit der Nato – die Grundlage für die Effektivität der Allianz im Verlauf ihrer 70-jährigen Geschichte – in Gefahr bringen. Das sei das größte Risiko, warnen die Analysten.
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