Immerhin, die ersten 100 Tage sind in dieser Woche geschafft. Zeit zum Warmwerden für CDU, CSU und SPD. Nur: Die Große Koalition ist in dieser kurzen Zeit mächtig heiß gelaufen. So sehr, dass man fürchten muss, ob sie die 200 Tage überhaupt noch erreicht. Digitalisierung, Bildung, Verkehr, Pflege - darüber wird in Deutschland viel geredet. Den Regierungsalltag prägen diese Themen seit Mitte März aber kaum. Die Flüchtlingspolitik überlagert alles und prägt den schwierigen Start der Koalition. n-tv.de hat sich nach 100 Tagen mit der bisherigen Arbeit der wichtigsten Kabinettsmitglieder beschäftigt:
Angela Merkel
War es ein Fehler, bei der Bundestagswahl noch einmal anzutreten? Allein mit den Sorgen, die ihr US-Präsident Donald Trump bereit, könnte Merkel womöglich gut leben. Ein viel verbreitetes Foto des G7-Gipfels ließ wenig Zweifel daran, dass die Kanzlerin sich auf dem internationalen Parkett gegen unangenehme Partner gut behaupten kann. Eindrücke wie diese werden aber überlagert von anderen. Vor allem die Innenpolitik macht Merkels vierte Amtszeit zu ihrer wohl schwierigsten. Die Bamf-Affäre konfrontiert sie mit schweren Versäumnissen ihrer Flüchtlingspolitik. Ihr Innenminister Horst Seehofer drängt auf einen Kurswechsel und denkt nicht daran, nachzugeben. Merkel verwarnte ihn in dieser Woche sogar mit Verweis auf ihre Richtlinienkompetenz.
Und wenn Seehofer sich trotzdem über ihren Willen hinwegsetzen und mit der Zurückweisungen von Flüchtlingen an der Grenze beginnen sollte? Würde die Kanzlerin ihn entlassen? Merkels Problem ist: Die Mehrheit der Unionsabgeordneten befürwortet Seehofers Kurs. Oppositionspolitiker halten es für möglich, dass die Kanzlerin im Bundestag die Vertrauensfrage stellt. Für den Fall, dass das Parlament sich für eine nationale Lösung in der Flüchtlingspolitik entscheiden würde, bliebe ihr wohl keine andere Wahl, als zurückzutreten. Ihr Schachzug, Annegret-Kramp-Karrenbauer zur Generalsekretärin zu berufen und als Nachfolgerin aufzubauen, geht womöglich nicht auf. Ein geordneter Übergang, wie Merkel ihn in ihrer letzten Legislatur eigentlich anstrebt, ist zurzeit nicht absehbar. Ein Bruch von Fraktionsgemeinschaft und Koalition mit anschließenden Neuwahlen ist nicht mehr ausgeschlossen - denkbar ist, dass die Ära Merkel nicht zur nächsten Wahl, sondern schon vorzeitig mit einem großen Knall endet.
In der Öffentlichkeit genießt die Kanzlerin nichtsdestotrotz nach wie vor hohes Ansehen. In der wöchentlichen Forsa-Kanzlerfrage liegt sie weit vor Andrea Nahles und Olaf Scholz. 51 Prozent sind mit ihrer Arbeit zufrieden, mit der der Bundesregierung insgesamt derweil nur 28 Prozent.
Olaf Scholz
Der frühere Erste Bürgermeister Hamburgs ist als Finanzminister und Vizekanzler wichtigster Sozialdemokrat im Kabinett. Die SPD feierte sich nach den Koalitionsverhandlungen im März dafür, das wichtige Ministerium erobert zu haben. Nicht nur in der eigenen Partei sind die Erwartungen an Scholz entsprechend hoch. Die erste Bilanz fällt mäßig aus. Dass Scholz am Kurs seines Vorgängers Schäubles festhält, sorgt in Teilen der SPD für Enttäuschung. "Allein einen soliden Haushalt zu präsentieren, ist zu wenig", sagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller im "Spiegel". "Wir müssen viel stärker investieren. Dafür hat man ja dieses Haus." Nicht nur Müller hätte sich mehr eigene und sozialdemokratische Akzente genutzt. Statt auf Investitionen und Umverteilung setzt Scholz jedoch aufs Sparen. Dabei wäre der Spielraum aufgrund der hohen Steuermehreinnahmen durchaus vorhanden. Oppositionspolitiker ärgerten sich, dass der Minister erst 91 Tage nach der Wahl und damit viel später als seine Vorgänger Schäuble (49) und Peer Steinbrück (21) im Haushaltsausschuss vorstellig wurde. Kritiker werfen Scholz vor, dass er insgesamt, aber vor allem beim Thema Europa zu wenig mache, zu mutlos und vorsichtig agiere. Ein Bereich, in dem die SPD in den Koalitionsverhandlungen einiges durchgesetzt hatte.
Als einflussreichster Sozialdemokrat im Kabinett muss Scholz sich auch vorwerfen lassen, dass die SPD im Asylstreit zwischen CDU und CSU mit Zurückhaltung glänzt und bisweilen sogar überfordert wirkt. In der Union sind sie im Hinblick auf den Finanzminister insgesamt ein bisschen beruhigt. Die Sorge, dass der 60-Jährige den Weg Schäubles verlassen könnte, um sich von CDU und CSU abzusetzen, hat sich bisher nicht bestätigt. Dass Scholz so still und leise auftritt und wenig Anstalten macht, sich gegen den Koalitionspartner zu profilieren, wird wohlwollend zur Kenntnis genommen. Den Ehrgeiz, sich als nächster Kanzlerkandidat in Stellung zu bringen, machen Unionspolitiker bei ihm nicht aus. Bei den Wählern genießt Scholz dennoch einen guten Ruf. Laut einer aktuellen Umfrage von Infratest Dimap sind 40 Prozent mit seiner Arbeit zufrieden, 31 unzufrieden. Auffallend: Anhänger von CDU und CSU sehen Scholz sehr positiv.
Horst Seehofer
Der CSU-Chef ist, jenseits jeder Wertung, zweifellos das aktivste Kabinettsmitglied. Seehofer hat sich einiges vorgenommen. Das ohnehin schon große Innenministerium wurde um die Bereiche Bau und Heimat aufgestockt. Einen Schwerpunkt legte Seehofer in den ersten dreieinhalb Monaten eindeutig auf die Einwanderungspolitik. "Wir haben verstanden. Wir kümmern uns", dieses Narrativ bemüht er unentwegt. Der Bamf-Skandal, den Seehofer politisch nicht zu verantworten hat, kommt da fast gelegen - legt er doch Fehler in der Flüchtlingspolitik offen. Sogar Oppositionspolitiker lobten die souveränen und sogar demütigen Auftritte des Ministers im Innenausschuss. Seehofers Aktionismus hat wohl auch mit dem 14. Oktober zu tun, dem Tag der bayerischen Landtagswahl. In den Umfragen sind die Werte der AfD so hoch, dass Seehofers Partei um ihre absolute Mehrheit zittern muss.
Seit zwei Wochen nimmt die CSU dies verstärkt zum Anlass, sich als Law-and-Order-Partei zu positionieren und in der Flüchtlingspolitik auf eine nationale Lösung zu pochen. Seehofer werde vom bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder und Landesgruppenchef Alexander Dobrindt dazu gedrängt, das glauben zumindest nicht wenige Politiker, vor allem bei SPD, Grünen und Linken. Der Innenminister droht damit, gegen den Willen der Kanzlerin Flüchtlinge an der Grenze zurückzuweisen. Es ist die Fortsetzung des Machtkampfes zwischen Merkel und dem CSU-Chef, der im Sommer 2015 ausgebrochen ist. Seehofer und seine Partei berufen sich in dem Streit immer wieder darauf, für die Mehrheit der Gesellschaft zu sprechen. Im Hinblick auf die Mehrheitsverhältnisse in der Unionsfraktion und in Bayern mag das stimmen, nicht jedoch für die im ganzen Land. Einer Forsa-Umfrage zufolge sehen 68 Prozent Wahltaktik als Motiv. Zwei Drittel sind für eine europäische, nur ein Drittel für eine nationale Lösung. Bemerkenswert: Laut einer Forsa-Umfrage sind AfD-Anhänger bisher ausgesprochen zufrieden mit der Arbeit Seehofers. Ob seine Eskalationsstrategie aufgeht, wird sich im Oktober zeigen.
Heiko Maas
Der Mann aus Saarlouis hat einen steilen Aufstieg hingelegt. Dreimal unterlag er als SPD-Spitzenkandidat bei Landtagswahlen im Saarland, bevor er 2013 das Justizministerium übernahm. Als Außenminister tritt der 51-Jährige anders auf als sein Vorgänger und Parteifreund Sigmar Gabriel. So setzt Maas vor allem im Verhältnis zu Russland auf kritischere Töne, was ihm in seiner Partei schnell Kritik einbrachte. Nach einem Gespräch im SPD-Vorstand im Mai wurde der Streit angeblich beigelegt, allerdings ohne dass Maas seinen Kurs ändern musste. Auch Politiker von Union und Linken äußern sich zum Start positiv über den Neuen im Auswärtigen Amt. Gelobt wird auch seine deutlich Haltung Richtung USA. Souverän, informiert, höflich, das ist der erste Eindruck von Politikern der anderen Parteien. Auch außerhalb des Bundestags erhält Maas ein gutes Zeugnis. Im Deutschlandtrend von Infratest Dimap hat er von allen Minister die besten Zufriedenheitswerte.
Maas profitiert dabei von einer Tradition. Sämtliche Vorgänger - zuletzt der vor seinem Amtsantritt mäßig beliebte Gabriel - erfuhren in der Rolle des Chefdiplomaten einen kräftigen Popularitätsschub. Zusätzliche Gelegenheit zur Profilierung bietet Maas der deutsche Sitz im Uno-Sicherheitsrat in den Jahren 2019 und 2020. Nach Vizekanzler Scholz und Parteichefin Andrea Nahles zählt er damit fast zwangsläufig zu einem der aussichtsreichsten Bewerber für die nächste SPD-Kanzlerkandidatur.
Jens Spahn
Der 38-Jährige gilt als Wortführer der Konservativen und Merkel-Kritiker in der CDU. Nicht wenige in der Union halten ihn für kanzlerfähig. Entsprechend groß sind die Aufmerksamkeit und die Erwartungen. Das Gesundheitsministerium, Spahns erster Kabinettsposten, gilt als so etwas wie eine Bewährungsprobe für mehr. Es gibt sicherlich einfachere Ämter. Spahn hat eine Baustelle übernommen, auf der er sich jedoch auskennt. Mit 25 Jahren wurde er 2005 Obmann der Unionsfraktion im Gesundheitsausschuss, später gesundheitspolitischer Sprecher. Spahn hat gleich im März einige Sofortmaßnahmen eingeleitet, darunter die Schaffung von 13.000 neuen Pflegestellen und die im Koalitionsvertrag beschlossene Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung. Er will auch die Wartezeiten auf Arzttermine für gesetzlich Versicherte verkürzen.
Was Spahn bis zur Bundestagswahl 2021 vorweisen sollte? Er müsse den Pflegeberuf interessanter machen und die Kurzzeitpflege verbessern, um Pflegeheime und Angehörige zu entlasten - das sind nur einige der Punkte, die Gesundheitsexperten nennen. Trotz Ministeramt hält Spahn sich auch bei fachfremden Themen nicht zurück. Im März polarisiert er mit Äußerungen, wonach Hartz IV nicht Armut bedeute. Im Asylstreit der Union hielt er sich zumindest öffentlich bedeckt. Zeichen setzt er jedoch mit betonter Nähe zum österreichischen Kanzler Sebastian Kurz und dem umstrittenen neuen US-Botschafter Richard Grenell. Ob das sein Image verbessert? Viele Deutsche sehen Spahn kritisch. Im aktuellen Deutschlandtrend erhielt er ein schlechtes Zeugnis. Nur 26 Prozent sind demnach zufrieden mit seiner Arbeit.
Peter Altmaier
Der Merkel-Vertraute, ehemalige Umweltminister und Kanzleramtschef gilt als Allrounder in der Union. Während der Regierungsbildung war er Übergangs-Finanzminister, im neuen Kabinett betreut er den Bereich Wirtschaft. Nach dem aus Unionssicht mäßig verlaufenen Ressort-Roulette mühte sich die CDU nach Kräften, den Posten als Verhandlungserfolg zu verkaufen. Der Verweis auf Ludwig Erhard durfte natürlich nicht fehlen. Auch wenn Altmaier über seine Partei hinaus beliebt ist, fällt die Bilanz nach 100 Tagen eher dünn aus. Im Handelsstreit mit den USA trat Altmaier - zwangsläufig - in Erscheinung, insgesamt gelang es ihm zumindest bislang jedoch nicht, die erhofften Akzente zu setzen.
Viele der Gründe haben nicht direkt etwas mit dem CDU-Politiker zu tun. Das Ministerium hat es inhaltlich traditionell schwer. Das Thema Wirtschaft ist eher trocken, die Energiepolitik ist komplex. Eine Aufrüstung zum Digitalministerium hätte theoretisch Chancen geboten, Union und SPD entschieden sich aber dagegen. Die Große Koalition mache da weiter, wo die alte aufgehört habe, darauf verweisen sogar Wirtschaftsexperten aus der Union. Es gebe keinen "großen Spirit", darunter leide auch Altmaier. Der 60-Jährige geriet zuletzt auch wegen der Bamf-Affäre in die Kritik; Merkel hatte ihn vor drei Jahren zu ihrem Flüchtlingskoordinator ernannt. Bei den Wählern steht Altmaier dennoch hoch im Kurs. Laut Infratest Dimapsind 44 Prozent mit seiner Arbeit zufrieden – das ist der zweitbeste Wert aller Minister.
Quelle: n-tv.de
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