Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer und die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig durchleben schwierige Zeiten. Beide Politiker sind massiv in die Kritik geraten. Zu wenig Mitgefühl für den erstochenen Daniel H. und eine verzerrte Aufmerksamkeit auf die Proteste in der Stadt, sagen die einen. Zu wenig und zu späte Distanzierung von Rechtsextremen, die diese Demonstrationen für ihre Zwecke ausgenutzt haben, meinen die anderen. Bilder aus Chemnitz, auf denen Demonstranten den Hitlergruß zeigen, waren bundesweit, ja weltweit, zu sehen. Nicht wenige Chemnitzer geben dem Regierungschef und der Kommunalpolitikerin eine Mitschuld an dem Bild, was von Sachsens drittgrößter Stadt entstanden ist. Dennoch stellen sich Kretschmer und Ludwig am Abend bei dem seit Wochen anberaumten "Sachsengespräch" einem Publikum, das kein einfaches sein konnte.
Vor den Toren der Veranstaltung findet erneut eine Demonstration statt. Viele Teilnehmer haben klare politische Interessen und zeigen sie offen: T-Shirts der rechtsextremen Identitären Bewegung, des Verschwörungsmagazins "Compact" und eine umgedrehte Deutschlandflagge: Erkennungszeichen zahlreicher Reichsbürger-Gruppierungen sind zu sehen. Geschichten machen die Runde: Den Hitlergruß hätten gar keine Rechten gezeigt, sondern Linksradikale, oder gar der Verfassungsschutz, der sich unter die Demo gemischt haben soll, sagt ein Demonstrant. "Die schweigende Mehrheit ist auf Seite der AfD. Sie werden sehen", ein anderer. Drinnen ist das Publikum gemischter.
Kretschmers Stich ins Wespennest
Kretschmer findet zu Beginn den richtigen Ton. Man könne die Veranstaltung nicht durchziehen "als wäre nichts gewesen", sagt der CDU-Politiker. Klar, das Thema ist gesetzt. Niemand rechnet damit, dass an diesem Abend über Verkehrspolitik oder Kulturförderung gesprochen wird. Dann ruft der Ministerpräsident zu einer Schweigeminute für den getöteten Daniel H. auf. "Ein Mensch wurde getötet", sagt er, senkt den Kopf und faltet die Hände. Es ist eine Geste, die sich viele früher gewünscht hätten. Für einen Moment ist es still. Dann setzt Kretschmer seine Ansprache fort und sagt wenig später: "Wir sind nicht alle rechtsradikal." Er bekommt dafür Applaus von den Anwesenden. Kretschmer verspricht, das Verbrechen werde genau aufgeklärt - Zustimmung.
Und dann sticht der Regierungschef in ein Wespennest. Er redet davon, man müsse sich distanzieren, wenn Menschen auf einer Kundgebung Symbole wie den Hitlergruß verwendeten. Und weil diese Distanzierung so wichtig sei, freue er sich über das Konzert am Montag, bei dem die Chemnitzer Rockband Kraftklub auftreten soll. Buh-Rufe, Pfiffe, es wird laut, der Ministerpräsident schaut verwirrt. Denn nicht nur Kraftklub, die Toten Hosen, die Berliner Rap-Gruppe K.I.Z. wollen am Montag auftreten, sondern auch die Band Feine Sahne Fischfilet, der mindestens gute Kontakte zur linksextremen Szene unterstellt wird.
Schwerer Stand für die Oberbürgermeisterin
Noch turbulenter wird es beim Auftritt der Chemnitzer Bürgermeisterin Ludwig. Die SPD-Frau steht verunsichert auf der Bühne, es wird ihr nicht entgangen ein, wie viele Chemnitzer in den vergangenen Tagen über sie gesprochen haben. Kaum ein Wort zum Getöteten aber scharfe Kritik an der Demo, die viele nicht als "Rechte Demo", sondern als Trauermarsch begreifen. Pfiffe, Buh-Rufe - Ludwig hat es anfangs schwer, zu Wort zu kommen. Aber es gibt auch Zustimmung. Die Stadt könne stolz sein, auf die vielen ausländischen Studenten, die vielen Facharbeiter aus aller Welt: Sie bekommt Applaus. Wie es auf diese Menschen wirke, wenn sie auf der Straße nicht mehr sicher sein, fragt Ludwig. Wieder Pfiffe von Chemnitzern, die sich selbst in ihrer Stadt offenbar nicht mehr sicher fühlen. Es geht hin und her. Und das abwechselnde Pfeifen des einen und der Applaus des anderen Lagers zeigen, wie gespalten diese Stadt ist.
In der persönlichen Fragerunde mit Kretschmer geht es zurück zu dem, was viele hier als die Ursache einer Tat wie die Tötung von Daniel H. ansehen: eine misslungene Einwanderungs- und Integrationspolitik. "Manche von denen ziehen einen als Frau ja regelrecht aus. Was soll man da machen", will eine Chemnitzerin wissen. Kretschmer zeigt Verständnis: "Wenn jemand sich nicht benimmt, noch bevor er kriminell wird, müssen wir ihm mit einer klaren Ansprache zeigen, dass das nicht geht", sagt er. "Wir müssen da ganz offen drüber reden." Sie sei "wirklich keine Rassistin", sagt eine andere Frau, "aber Migranten sind nun einmal krimineller". Kretschmer benutzt daraufhin den Begriff "Einzelfall" - für manche ein geflügeltes Wort. "Nein, das ist eine Tendenz in diesem Land", sagt die Dame.
"Sie müssen das absagen"
Dann bekommt Kretschmer scharfe Kritik für das Konzert am Montag. "Sie müssen das absagen", fordert ein Zuhörer. "Ja, absagen", raunt es durch die Menge. Auf der einen Seite zeige die Politik eine klare Haltung gegen eine Instrumentalisierung des Todesfalls durch Rechtsextreme, gestatte aber auf der anderen Seite einer Band, der das Publikum eine linksextreme Gesinnung unterstellt, genau das zu tun. "Die ganze linke Szene beansprucht das für sich", sagt ein Gast. Der Christdemokrat wirkt kurz wie jemand, der etwas gut gemeint hat, ohne wirklich Ahnung zu haben und sagt dann: "Mir gefällt die Musik ja auch gar nicht".
Manchmal wirkt Kretschmer etwas überfordert angesichts der überbordenden Kritik an der Politik. Aber er ist sichtlich bemüht, hört zu, unterbricht nur selten. Viel Kritik wird an diesem Abend auch an der Medienberichterstattung laut. Es sei ein völlig falsches Bild gezeichnet worden, lautet der Vorwurf. Es habe gar keine Hetzjagden durch die Stadt gegeben, lautet eine Behauptung. Kretschmer schließt sich dem - ein wenig - an. Dass von "Pogromen" die Rede war, sei natürlich völliger "Unfug". Und wenn Ausländer kriminell seien, müsse das konsequent angezeigt werden, sagt er. Man dürfe doch nicht als Nazi bezeichnet werden, nur wenn man die Einwanderungspolitik kritisiere, sagt eine Frau. Der Ministerpräsident zeigt volles Verständnis. Er zeigt viel Verständnis für die omnipräsente Kritik an einer aus Sicht der Chemnitzer völlig misslungenen Einwanderungspolitik.
Wie weit lässt CDU den Ministerpräsidenten gehen?
Damit offenbart sich ein Dilemma, in dem ein CDU-Politiker wie Kretschmer steckt. Die Partei hat ihr konservatives Profil vernachlässigt und verliert zunehmend Wähler an die AfD. Vor allem hier in Sachsen. Kretschmer versucht, dieses Profil wieder zu stärken. Doch wie weit kann er sich dabei aus dem Fenster lehnen? Der Ministerpräsident, dem viele vorwerfen, er habe zu wenig Bindung zur Basis, zum einfachen Bürger, hat bewiesen, dass er zum Dialog sehr wohl in der Lage ist. Er will den Chemnitzern und ihren Forderungen nach einer härteren Gangart in der Migrationspolitik entgegenkommen, Kompromisse machen.
Doch entscheidend für ihn und dafür, ob er bei der kommenden Landtagswahl der AfD Paroli bieten kann, ist die Frage, wie weit ihn die CDU gehen lässt. In Sachsen sind die Forderungen nach einer Veränderung, einer Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik besonders laut. Ein Politiker wie Kretschmer braucht ein besonders starkes konservatives Profil. Ob die CDU-Bundesführung ihn da weitermachen lassen wird, wo er an diesem Abend angefangen hat?
Quelle: n-tv.de
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