Deutschland im Spätsommer 2018. Wenn man Alexander Gauland an diesem Morgen im Bundestag zuhört, ist das ein Land, durch das Flüchtlinge eine Spur der Gewalt ziehen, in dem die Bürger jeden Tag um ihr Leben fürchten müssen.
Wenn man Angela Merkel zuhört, die gleich nach dem AfD-Fraktionschef unter der Reichstagskuppel ans Rednerpult tritt, ist es ein Land, das zunehmend von Hetze zerfressen ist, in dem immer mehr Menschen ausgegrenzt werden.
Aber ansonsten ein sehr stabiles Land, sagt Merkel, mit einer Regierung, die gerade zum fünften Mal in Folge einen Haushalt ohne neue Schulden geschafft hat.
Aus Gaulands Sicht ist es ein Zerrbild, das die Kanzlerin von Deutschland zeichnet. Dabei ist es der AfD-Fraktionschef, der dies tut. Er macht das ruhig und bedächtig, im Gewande und Duktus des Konservativen. Und er gibt sich betont unschuldig. "Wer gefährdet den inneren Frieden in unserem Land? Wir nicht", sagt er zum Schluss seiner knapp 15-minütigen Rede, die sich fast ausschließlich um die Bedrohung durch Migration und die aus AfD-Sicht verquere öffentliche Debatte in Deutschland dreht.
Aber so ist das seit dem AfD-Einzug in den Bundestag und der Bildung der Großen Koalition. Weil Gaulands Fraktion die stärkste der Opposition ist, darf sie auch die Generaldebatte zum Kanzleramtsetat eröffnen. So sehen es die Bundestagsregeln vor. Und so kann der AfD-Fraktionschef ungestört den Ton im deutschen Parlament setzen.
Und mit jeder weiteren Debatte, in der sich die AfD als eigentliches Opfer inszeniert, scheint sie sogar noch an Zustimmung zu gewinnen. Selbst die jüngste Diskussion über eine mögliche Beobachtung der Partei durch den Verfassungsschutz hilft am Ende wohl vor allem der AfD.
Gauland behauptet ganz leutselig: Nur zu - "wir haben nichts zu verbergen". Und natürlich verteidigt er den in die Diskussion geratenen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen, der sich in der Bewertung der Krawalle in Chemnitz gegen die Kanzlerin gestellt hat.
Einer hält es schließlich nicht mehr aus an diesem Morgen. Martin Schulz, Ex-Vorsitzender der SPD, nutzt die Möglichkeit einer Zwischenfrage nach Gaulands Rede zu einem heftigen verbalen Angriff auf die AfD.
Die AfD bediene sich eines "Mittels des Faschismus", sagt Schulz wütend, indem man komplexe Sachverhalte auf ein einziges Thema reduziere. "Die Migranten sind an allem schuld. Eine ähnliche Diktion hat es in diesem Hause schon einmal gegeben", sagt er bezogen auf die NSDAP von Adolf Hitler. Er finde, sagt Schulz, es sei an der Zeit, dass sich die Demokraten in diesem Land wehrten "gegen diese Form der rhetorischen Aufrüstung, die am Ende zu einer Enthemmung führt, deren Resultat Gewalt auf den Straßen ist".
Gauland jedenfalls gehöre, sagt der SPD-Politiker in Anlehnung an dessen Zitat, wonach der Nationalsozialismus ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte sei, auf den "Misthaufen in der deutschen Geschichte".
Am Ende applaudieren Schulz viele Abgeordnete von SPD und Linkspartei stehend, auch von den Grünen kommt breiter Beifall, aber schon bei der Union ist der Applaus spärlicher, erst recht bei der FDP.
Das zeigt, wie uneinig sich der Rest des Parteienspektrums ist, wenn es um die AfD geht.
Soll man sie so hart attackieren wie Schulz oder sein Fraktionskollege Johannes Kahrs, wegen dessen scharfer Attacken die AfD-Abgeordneten schließlich geschlossen das Plenum verlassen? Soll man sie ignorieren, wie mancher im Bundestag findet? Oder ist der Weg von Kanzlerin und CDU-Chefin Merkel der richtige, die der AfD maximale Ruhe und Sachlichkeit entgegensetzt?
Merkel redet für ihre Verhältnisse deutlichen Klartext, indem sie nach den Ereignissen in Chemnitz und Köthen vor rechtsextremistischer Hetze, Ausgrenzung und Gewalt warnt. "Es gelten bei uns Regeln, und diese Regeln können nicht durch Emotionen ersetzt werden." Das, sagt Merkel, "ist das Wesen des Rechtsstaats".
Merkel setzt mal wieder auf Sachpolitik
Dabei zeigt ja gerade die AfD, wie leicht man mit Emotionen Erfolg haben kann. Merkel setzt auch an diesem Tag alles dagegen, was sie an Sachpolitik aufzubieten hat: Wohnungsnot, Pflege, Rente, Digitalisierung, Fluchtursachenbekämpfung, die Reform der EU, diese und jene Kommission. Darüber verliert einer wie Gauland kein Wort. Dass Deutschland eben keine Insel ist, die sich von der Welt abkoppeln kann, beispielsweise aktuell vom Konflikt in Syrien, das ist der Kanzlerin wichtig. Wie den meisten Rednern an diesem Vormittag.
Nur liegen bei dem einen oder anderen die Nerven dann doch ein bisschen blanker als bei Merkel, die sich im dreizehnten Jahr ihrer Kanzlerschaft und dem Fast-Bruch der Unionsparteien im Frühsommer offenbar vorgenommen hat, gar nichts mehr an sich heranzulassen. Sonst müsste sie alleine wegen der Causa Maaßen, in der CSU-Chef und Innenminister Horst Seehofer als unmittelbarer Vorgesetzter bislang keinerlei Anzeichen macht, den Verfassungsschutzpräsident zu entlassen, außer sich sein - von Seehofers jüngsten Ausführungen ("Die Migrationsfrage ist die Mutter aller Probleme in diesem Land") ganz zu schweigen. Die SPD, das macht Parteichefin Andrea Nahles in der Debatte klar, sieht für Maaßen keine Zukunft mehr.
Wann jedenfalls hat man FDP-Chef Christian Lindner schon einmal so aus der Haut fahren sehen wie in dieser Debatte? Manches Fraktionsmitglied macht sich schon Sorgen um seinen Blutdruck, als Lindner wegen eines Zwischenrufs von Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter die Zornesröte ins Gesicht schießt und er diesem mit bebender Stimme parteipolitische Spielchen vorwirft, während er selbst sich um einen demokratischen Konsens gegenüber den Ausfällen der AfD bemühe.
Oder Hofreiters Ko-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt: In der Debatte um Chemnitz, Maaßen und Seehofer erregt sich die Grünen-Politikerin derart, dass sie wohl nur knapp an einem Ordnungsruf vorbeischrammt. In Ostdeutschland, sagt die Frau aus Thüringen, lebten viele Menschen, die unter erschwerten Umständen viel für die Demokratie täten. "Das ist nicht die AfD und das sind nicht die Arschlöcher, die auf die Straße gehen und hetzen und Hitler-Grüße zeigen."
Die Stimmung im Bundestag, dagegen hilft auch Merkels Kühlschrank-Taktik nicht, ist aufgeheizt wie lange nicht mehr. Das tut den in der vergangenen Legislaturperiode oft dahinschlummernden Debatten einerseits gut. Aber wenn man davon ausgeht, dass sie eben auch die Stimmung im Lande abbildet, ist das auch ein besorgniserregendes Zeichen.
spiegel
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