Mitten im Finanzierungsgespräch brach die Hölle los. Erst hörte man einen ohrenbetäubenden Knall, dann berstendes Glas. Messerscharfe Scherben zischten aus allen Richtungen durch die Luft. Geistesgegenwärtig setzte John Markle seinen Filzhut auf, der auf dem Stuhl neben ihm lag.
Der Kohleminenbetreiber war am 16. September 1920 mit zwei Mitarbeitern in die Filiale von J.P. Morgan an die New Yorker Wall Street gekommen. Gerade berichtete er Abteilungsleiter Thomas W. Joyce von Arbeiterstreiks in den Minen in Pennsylvania - und plötzlich war Chaos um ihn herum. Joyce hatte schwere Schnittverletzungen am Kopf, Blut lief ihm übers Gesicht auf das Hemd. Mit dem Schwerverletzten bahnten sich Markle und seine Angestellten einen Weg aus der verwüsteten Bank Richtung Krankenhaus.
Draußen "konnte ich die Verwüstung sehen", erzählte er der "New York Times" kurz nach dem Anschlag. "Mindestens drei Tote lagen auf der Straße, und dann war da das Wrack von dem, was einst ein Auto gewesen war. Ich hatte den Eindruck, dass die Explosion vom Automobil gekommen war."
30 Menschen lagen tot auf der Wall Street, manche ohne Oberkörper oder Unterleib. Neun weitere Menschen erlagen ihren schweren Verletzungen in den Tagen darauf. Der Wagen war völlig zerstört, daneben hatte die Wucht der Explosion einem Pferd die Eingeweide herausgerissen. Markle legte sich gleich fest: "Für mich gibt es keinen Zweifel, dass die Explosion von Bolschewisten verursacht wurde."
Blitzartig zurück zur Normalität - Mit 39 Toten und zwei Millionen Dollar Schaden allein für das Bankhaus J.P. Morgan war es USA-weit der schwerste Anschlag seit dem Bombenattentat auf das Gebäude der "Los Angeles Times" 1910. Und blieb lange der tödlichste Anschlag in New York City, bis zum 11. September 2001.
Am Ground Zero steht heute ein Memorial. An die Opfer und Geschehnisse des 16. September 1920 erinnert kein Mahnmal, keine Gedenktafel. Banker, Ermittler und die Öffentlichkeit gingen schnell wieder zur Normalität über. J.P. Morgan öffnete gleich am nächsten Tag wieder die Türen; der Handel an der Wall Street wurde wieder aufgenommen, als wäre nichts geschehen.
"Die verschwundene Erinnerung an die Wall Street Explosion war ein bewusster und hoch politischer Vorgang. Weder die Morgan-Bank noch Ermittlungsbehörden, die Presse, Super-Patrioten, Libertäre oder politische Radikale hatten ein Interesse daran, sie zu bewahren", sagt Beverly Gage, Historikerin an der Universität Yale.
Denn der Anschlag traf die amerikanische Gesellschaft mitten in der ersten Welle der Roten Angst. Seit dem Ersten Weltkrieg seien die Amerikaner auf "red scare", auf Angstzustände getrimmt worden, erklärt Autor Charles McCormick: "Sie fürchteten sich vor Fremden, vor deutschen Spionen - vor jedem, der nicht der Mehrheit glich, die im Grunde nur aus weißen Angelsachsen und Protestanten bestand."
spiegel
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