Claudia Arabackyj ist gut gelaunt und entschlossen, in der nächsten Minute eine weitere Wählerin von sich zu überzeugen. "Hallo, ich bin Ihre Direktkandidatin", ruft die 46-Jährige einer älteren Frau über den Gartenzaun zu. Die Dame dreht sich kurz um, schaut auf Arabackyjs Umhängetasche mit dem aufgedruckten SPD-Logo und winkt ab. "Wir wissen schon, wen wir wählen müssen. Danke", sagt sie und wendet sich wieder ihrem Rasen zu. In Bayern sollte eine SPD-Politikerin solche Szenen gewohnt sein, könnte man meinen. In Nürnberg allerdings sieht die Sache etwas anders aus.
Die 500.000-Einwohner-Stadt ist eine der wenigen SPD-Inseln im sonst schwarzen Bayern. Seit 2002 ist der Sozialdemokrat Ulrich Maly dort Oberbürgermeister. Davor war sechs Jahre lang ein CSU-Politiker im Amt. "Aber das war ein Ausrutscher", sagt Arabackyj. Sie selbst ist seit 16 Jahren Stadträtin und kandiert nun für den Landtag. Um Wähler zu gewinnen, ist sie in den vergangenen Wochen mehrfach von Tür zu Tür gegangen. "So wie die Leute reagieren, sehe ich mich im Landtag", sagt sie.
Und tatsächlich wird Arabackyj fast immer freundlich begrüßt, man wünscht ihr Glück, eine ältere Dame öffnet die Fensterluke in der Haustür und sagt: "Ich habe doch schon für Sie gestimmt. Per Briefwahl. Aber wenn ich könnte, würde ich noch mal." Arabackyj lächelt. Ihr macht der Wahlkampf sichtlich Spaß. Doch sie weiß, dass sie auch gegen die Zeit anrennt. Zehntausende Bayern haben ihre Stimme bereits per Briefwahl abgegeben. Und bis zur Wahl wird die Politikerin es nicht mehr schaffen, sich allen Wählern ihres Stimmkreises an der Haustür vorzustellen.
Gleichauf mit der AfD?
Dem Wahlausgang blickt Arabackyj mit gemischten Gefühlen entgegen. "Ich glaube einfach nicht, dass die AfD zweitstärkste Kraft werden kann", sagt sie mit Bezug auf die jüngsten Umfragen. Diese sahen die SPD zuletzt bei etwa 11 Prozent und somit auf Augenhöhe mit den Rechten. "Das wäre brutal", sagt Arabackyj. Sie zählt bereits die Tage bis zur Landtagswahl.
Ihr Genosse Horst Arnold hat sogar die Stunden bis zur Stimmabgabe ausgerechnet. Am Abend eröffnet er eine Wahlkampfkundgebung, an der Nürnbergs Oberbürgermeister Maly, Bayerns SPD-Spitzenkandidatin Natascha Kohnen und Vizekanzler Olaf Scholz teilnehmen. "Noch 142 Stunden bis zur Wahl", sagt Arnold und eröffnet die Veranstaltung im Stadtteil Gartenstadt - "der SPD-Hochburg in der SPD-Hochburg", wie Arabackyj den Bezirk zuvor bezeichnet hatte.
Der Saal ist gut gefüllt, zwischen SPD-Fähnchen und Kugelschreibern stellen Kellnerinnen Teller ab. Bratwurst mit Kraut und Wiener Schnitzel gehen besonders gut. Auf der Bühne dominieren die Themen bezahlbarer Wohnraum und kostenfreie Kitaplätze. Die SPD hat ihre Schwerpunkte für den Wahlkampf deutlich gesetzt. In ihren Reden geben sich Maly, Kohnen und Scholz kämpferisch und teilen gegen die CSU aus.
"Kein Bundesland ist Eigentum einer Partei", sagt Scholz. Die CSU allerdings trage ihre innenpolitischen Querelen auf dem Rücken der Bürger aus. Nach der Wahl werde die Partei weniger Verantwortung haben. Damit hat Scholz vermutlich recht. Aktuellen Umfragen zufolge wird die CSU am Sonntag voraussichtlich ihre absolute Mehrheit einbüßen. Profitieren wird davon demnach jedoch nicht die SPD, sondern Grüne und AfD. Das wird an dem Abend jedoch von keinem der drei Hauptredner weiter thematisiert. Stattdessen sprechen sie von Zusammenhalt, Solidarität und sozialdemokratischen Werten und zeigen demonstrativ Einigkeit.
Ganz so einig dürften die drei sich allerdings nicht immer sein. Stehen sie doch auch exemplarisch für die Spaltung innerhalb der SPD. Während Maly und Scholz zu den Unterstützern der Große Koalition gehören und als Pragmatiker gelten, gilt Kohnen als kritischer und unterstützt einen schärferen Kurs. So hatte sie zuletzt SPD-Chefin Andrea Nahles in der Causa Maaßen öffentlich kritisiert und eine Abkehr von der geplanten Beförderung des umstrittenen Verfassungsschutzchefs gefordert.
Auch in Nürnberg ließ Kohnen die eine oder andere Spitze Richtung Vizekanzler Scholz fallen. So spielte sie darauf an, dass CSU-Politiker wie Horst Seehofer und Andreas Scheuer bereits in den Koalitionsverhandlungen "reine Machttaktiken" demonstriert hätten. "Sowas, lieber Olaf, darf es künftig nicht mehr geben", forderte Kohnen und erhielt lauten Zuspruch aus dem Saal.
Nach etwa anderthalb Stunden ist die Wahlveranstaltung vorbei. Eine Fragerunde war nicht vorgesehen. Während Scholz wenige Minuten nach dem Schlussapplaus durch den Seitenausgang verschwindet, stimmt eine Band auf der Bühne ihr erstes Lied an: "Talkin' Bout a Revolution" von Tracy Chapman. Mit der Revolution rechnet bei der Bayern-SPD vermutlich aber niemand. "Man hofft, dass am Sonntag alles nicht ganz so schlimm wird", sagt Arabackyj.SPD-Urgestein Lilo Seibel-Emmerich formuliert es weniger optimistisch. Die 86-Jährige saß zwischen 1966 und 1980 im bayerischen Landtag und ist an diesem Tag unter den Zuschauern im Saal gewesen. Die Reden von Scholz, Kohnen und Maly beschreibt sie knapp als "runden Abend". Die politische Situation fasst sie mit einem Zitat zusammen, dessen Urheber ihr nicht mehr einfällt: "Die Nacht dauert nur acht Stunden und dann kommt schon der neue Tag".
spiegel
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