Was am Dienstagabend im Pariser Stade de France geschah, schien vor zwei Jahren noch undenkbar. Damit ist nicht gemeint, dass Deutschland gegen Frankreich verloren und mit dieser sechsten Niederlage das schlechteste Kalenderjahr seiner Historie hingelegt hat. Zumindest nicht nur. Es geht auch um das Wie.
"Die Mannschaft hat mit viel Mut gespielt, sie hat ihr Herz in die Hand genommen", sagte Bundestrainer Joachim Löw nach dem 1:2 in der Nations League. Viele Beobachter stimmten zu, auch eine SPIEGEL-Überschrift lautete "Mut ohne Ertrag".
Der Auftritt mag zwar mutig gewirkt haben, Löw war es aber tatsächlich gar nicht. Eigentlich stellte der Bundestrainer seine Mannschaft so defensiv ein wie wohl noch nie in seiner Amtszeit.
Löw wählte einen für ihn neuen Ansatz: Fünf Spieler in der Abwehr, vier davon gelernte Innenverteidiger; davor liefen in Toni Kroos und Joshua Kimmich zwei defensiv ausgerichtete Spieler im Mittelfeldzentrum auf. Im Sturm verblieben Leroy Sané, Timo Werner und Serge Gnabry; aus dem Mittelfeld gab es praktisch keine Unterstützung, bis zu sieben Spieler blieben in der eigenen Hälfte. Für Löws Verhältnisse war das ultradefensiv.
Dass das trotzdem "mutig" wirken konnte, mag an der Dynamik gelegen haben, die Deutschland mitunter entfachte. Wenn dem Team Balleroberungen gelangen, wurde das Spiel schnell, genau das war Löws Ziel. Er setzte voll auf das Tempo seiner drei Stürmer, die mit Steilpässen in die Tiefe geschickt wurden. Dann aber waren sie auf sich allein gestellt.
Das Team hatte zwar auch längere Ballbesitzphasen, aus denen aber entstand kaum Torgefahr. Neuralgische Positionen im offensiven Mittelfeld blieben unbesetzt. Absichern statt angreifen.
War das nun eine vernünftige Anpassung an die Stärken Frankreichs? Oder vielleicht Löws Lehren aus dem WM-Debakel?
Gegen beides spricht der Zeitpunkt. Noch Anfang September, im Hinspiel gegen die Franzosen (0:0), hatte Löw eine offensivere Ausrichtung gewählt, ein 4-1-4-1 mit mehr Zug zum Tor. Seine Mannschaft hatte sich auch mehr Chancen erspielt als nun beim 1:2.
Löws neue Taktik scheint vielmehr eine Reaktion auf das 0:3 gegen die Niederlandeund die daraufhin aufbrandende Kritik zu sein. Es sei danach klar gewesen, "dass wir völlig neue Reize setzen mussten", sagte Löw am Dienstagabend. Es klang fast so, als wäre das nicht bereits nach dem WM-Vorrundenaus klar gewesen. So wirkt die Umstellung weniger intrinsisch motiviert, sondern getrieben.
Löw ließ auf 0:0 spielen, verloren hat er trotzdem
Es stellt sich auch die Frage, wie sinnhaft eine defensivere Ausrichtung ist. Aus dem offiziellen WM-Report, den die Fifa am Dienstag veröffentlichte, geht hervor, dass die deutsche Mannschaft in Russland im Schnitt doppelt so häufig in den gegnerischen Strafraum gelangte wie andere Teams während des Turniers.Sie erspielte sich mehr Chancen, traf aber zu selten.
Nun, gegen die Franzosen, fehlten sogar die Gelegenheiten. Ein von Sané schlecht zu Ende gespielter Konter (19. Minute), drei Abschlüsse nach Standards, ein zweifelhafter Elfmeter, viel mehr war da nicht. Löw ließ auf 0:0 spielen. Verloren hat er trotzdem.
Seit der Coach 2006 sein Amt übernahm, hat sich der Fußball der Nationalelf stark gewandelt. Zunächst lag der Fokus auf einer kompakten Verteidigung und Kontern. 2010 überrannte das DFB-Team bei der WM England und Argentinien, indem Deutschland auf Balleroberungen lauerte und dann das Tempo verschärfte: Steilpass, klatschen lassen, Steilpass, Abschluss. Damals spielten Mesut Özil und vor allem Wandspieler Miroslav Klose Schlüsselrollen im Angriff. Spielertypen, die dem aktuellen Kader fehlen.
Gegnern den Ball zu überlassen, wird nicht funktionieren
Je erfolgreicher Deutschland spielte, desto defensiver wurden seine Gegner, es fehlte der Raum für Konter. Löw forcierte das Ballbesitzspiel, seine Mannschaft musste auch gegen tiefe Abwehrreihen Lösungen finden. Beim WM-Sieg 2014 hatte sie im Finale gegen Argentinien 64 Prozent Ballbesitz.
Deutschland verfügt auch heute über einen der besten Nationalkader der Welt. Den Gegnern den Ball zu überlassen, wird nicht funktionieren, Außenseiter würden ihn schlicht zurück in die deutsche Hälfte schießen. Nach dem Motto: "Macht ihr mal, wir müssen nicht."
Löw weiß das. Er hat sich während des vergangenen Jahrzehnts mit der Problematik auseinandergesetzt, inspiriert durch den Spielstil der spanischen Nationalmannschaft und des FC Bayern unter Pep Guardiola. So entstand Löws Werk als Trainer, das tatsächlich geprägt war von Mut und Dominanz.
Vielleicht wird also der Dienstagabend als der Moment in die DFB-Historie eingehen, an dem Löw seine eigentliche Spielidee aufgegeben hat.
Frankreich - Deutschland 2:1 (0:1)
0:1 Kroos (14./Handelfmeter)
1:1 Griezmann (62.) 2:1 Griezmann
(80./Foulelfmeter)
Frankreich: Lloris - Pavard, Varane, Kimpembe, Hernandez - Pogba, Kanté (90.+4 N'Zonzi) - Mbappé (86. Dembelé), Griezmann (90.+1 Ndombelé), Matuidi - Giroud
Deutschland: Neuer - Kehrer, Süle, Hummels - Ginter (84. Brandt), Kimmich, Schulz - Kroos - Gnabry (88. Müller), Werner, Sané (75. Draxler)
Schiedsrichter: Milorad Mazic (Serbien)
Gelbe Karten: - / Ginter
Zuschauer: 75.000
spiegel
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