Ohne Demokratie kein Europa

  06 Januar 2016    Gelesen: 880
Ohne Demokratie kein Europa
Europa kommt nicht aus der Krise, weil die Mitglieder nur nationale Interessen verfolgen. Eine EU-Regierung, kontrolliert von einem starken Parlament, würde das ändern.
Europa stolpert von Krise zu Krise. Immer weniger scheint die Europäische Union im Stande, mit ihren inneren Widersprüchen fertig zu werden. Ein Hauptgrund dafür ist ihr Demokratiedefizit. Zwar sind alle EU-Mitgliedsstaaten Demokratien, zumindest formal. Auch gründet der Vertrag von Lissabon die Union auf Freiheit, Demokratie und Gleichheit. Doch daraus wird in der Summe noch lange keine europäische Demokratie.

Nationale Regierungen vertreten innerhalb der EU immer nur die Teilinteressen ihrer eigenen Wählerschaft. Es gibt keine Regierung, die für das europäische Gesamtinteresse, für das Wohl aller, zusammen zuständig wäre. Hinzu kommt, dass einzelne Mitgliedstaaten wie Ungarn und Polen die demokratische Substanz von Rechtsstaatlichkeit immer weiter einschränken. Sie beschneiden die Rechte von Minderheiten und die Gleichheit von Frauen und Männern. Die EU-Mitglieder koordinieren ihre Politik nur, wenn ihre Präferenzen sich gleichen. Sobald ihre Interessen aber auseinanderlaufen, wird Europa unregierbar.

Nehmen wir die Flüchtlingskrise: Dem Dubliner Abkommen zufolge muss das Land, in dem Migranten zuerst die EU betreten, den Status der Asylsuchenden feststellen. Die Folge: Frontstaaten wie Italien, Griechenland, Ungarn und Kroatien sind durch die Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge hoffnungslos überfordert. In einer Union, die auf dem Prinzip der Gleichheit basiert, hätten sie Hilfe für eine faire Verteilung der Lasten erhalten.

Stattdessen haben die meisten Regierungen fremdenfeindlichen Instinkten nachgegeben, die die Werte und Ideale von Freiheit, Gleichheit und einer offenen Gesellschaft infrage stellen. Selbst die moralisch bewundernswerte Haltung der deutschen Kanzlerin wurde mit dem Bruch bestehender Verträge und ohne strategische Koordination durchgesetzt. Solche nationalen Alleingänge machen es unmöglich, eine Politik, die alle Bürger der Europäischen Union betrifft, demokratisch zu kontrollieren.

Stefan Colignon ist seit Oktober 2007 Professor für Wirtschaftspolitik an der Sant` Anna School of Advanced Studies in Pisa. Von 2001 bis 2005 lehrte Collignon als Professor für europäische politische Ökonomie an der London School of Economics.

Ein anderes Beispiel ist die Griechenlandkrise. Es besteht kein Zweifel, dass die Politik griechischer Regierungen von Kostas Karamanlis bis Alexis Tsipras den Euro destabilisiert hat. Es besteht aber ebenso wenig Zweifel, dass die Gegenmaßnahmen anderer Regierungen die Krise verschärft haben, insbesondere des größten Mitgliedstaats Deutschland. Die einzelnen Mitgliedsländer waren auch in dieser Krise immer durch innenpolitische Überlegungen getrieben. Das brachte den Euro mehrfach bis an die Grenze des Zusammenbruchs, statt die europäische Wirtschaft schnellstmöglich aus dem Schlamassel zu führen.

Die in Deutschland so geschätzte Sparpolitik ist bei weitem nicht unumstritten. Da im gesamtwirtschaftlichen Kreislauf das Geld, das der eine spart, dem anderen als Einkommen fehlt, ist das griechische Volkseinkommen um ein Drittel geschrumpft. Wen wundert es da, dass die Wähler rebellieren? Und doch hat die Wahl von Syriza in Griechenland nur eines bewiesen – und dies ein für alle Mal: Europäische Politik kann nicht durch nationale Wahlen geändert werden. Auch Spanien und Portugal werden diese Erfahrung 2016 machen. Wo bleibt da die Demokratie?

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