Brasilien wählt radikal

  28 Oktober 2018    Gelesen: 591
Brasilien wählt radikal

Ein Jahrzehnt lang erlebt Brasiliens Bevölkerung einen historischen Aufschwung. Doch Korruptionsskandale erschüttern das Vertrauen in die Demokratie. Davon profitiert der ultrarechte Jair Bolsonaro - er könnte heute neuer Präsident werden.

Als im Stadion von Maracanã die singenden Kinder ihre Overalls abstreifen und darunter schwarze T-Shirts mit dem Aufdruck "RESIST" zum Vorschein kommen, ist erster Jubel aus dem Publikum zu hören. Die letzten Töne von Pink Floyds "Another Brick in the Wall" verklingen, die Musiker verabschieden sich in die Pause, bevor das Wort auf der riesigen Leinwand über der Bühne erscheint. Es ist wie ein Signal. Zehntausende Zuschauer erheben sich von ihren Sitzen und skandieren aus vollem Halse "ele não", "er nicht". Gegensprechchöre von Sitznachbarn brüllen sie mit Drohungen und geballten Fäusten nieder.

Brasilien ist politisch gespalten. Die Gegner des rechten Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro sind beim Konzert von Roger Waters deutlich in der Mehrzahl; wohl auch, weil sie vorher wussten, welche politische Botschaft der ehemalige Pink-Floyd-Sänger mit nach Rio de Janeiro bringen würde. Dafür gesorgt hat auch der brasilianische Kultusminister Sérgio Sá Leitão, der die Tour nach dem Auftaktkonzert in São Paulo öffentlich als "illegalen Wahlkampf" schmähte. Es war nur ein Teil des Duells, dass er sich mit dem britischen Musiker lieferte. Der nannte Bolsonaro in einer Reihe mit Donald Trump, Viktor Orbán und Marine Le Pen.

Die Unterstützung des Publikums in Rio de Janeiro war nicht unbedingt zu erwarten. Roger Waters hatte sich mit einer Minderheit verbündet. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahl Anfang Dezember entschieden sich 58 Prozent in Rio für den rassistischen, homophoben, frauenfeindlichen und autoritären Bolsonaro. Landesweit erhielt er 46 Prozent der Stimmen. In der heute stattfindenden entscheidenden Stichwahl tritt er nun gegen den linken Kandidaten Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT an. Brasilien, die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas, steht am Scheideweg zwischen Autoritarismus und Demokratie.

Keine Angst vor Hitler-Vergleich

Bolsonaro wird von konservativen und reaktionären Kräften unterstützt; der Waffenlobby, Großgrundbesitzern, vielen Wirtschaftsbossen, den einflussreichen evangelikalen Kirchen sowie von Teilen der Armee und der Polizei. Er selbst sagt, er sei "mit Stolz homophob" und werde lieber mit Adolf Hitler verglichen als homosexuell zu sein. Brasilianische Politikwissenschaftler hatten vor der ersten Wahlrunde erwartet, dass sich in einer Stichwahl sämtliche Kräfte abseits der Rechten hinter Bolsonaros Gegner versammeln würden. Doch das Meinungsforschungsinstitut Ibope sagt einen überzeugenden Erfolg des vermeintlichen Außenseiters voraus.

Ein Sieg des rechten Kandidaten, der die Vorzüge einer einflussreichen Armee preist, ist scheinbar unlogisch in einem Land, das von 1964 bis 1985 unter eine Militärdiktatur litt und von 2003 bis 2016 von der linken PT regiert wurde. Einem Land, das unter der Arbeiterpartei bis 2012 einen historischen Aufschwung erlebte, der unter den rund 200 Millionen Menschen im Land den Anteil der Armen halbierte. Aber zwei große Korruptionsskandale haben Bolsonaro den Weg bereitet. Der um die Schmiergelder des Baukonzerns Odebrecht sowie "Lava Jato" um die staatliche Ölgesellschaft Petrobras. Dazu kommt die noch lange nicht ausgestandene Wirtschaftskrise, die nach einem zehnjährigen Boom das Land erfasste, sowie die Gewalt, der im vergangenen Jahr über 60.000 Menschen zum Opfer fielen.

Der Frust im Land ist groß. Wenn schon einer PT-Ikone wie Luiz Inácio Lula da Silva, der während seiner Präsidentschaft Millionen Einwohner aus der Armut holte, nicht zu trauen ist, wem dann? Wenn seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff, die während der Militärdiktatur als Widerstandskämpferin gefoltert wurde, nicht integer ist, wer ist es? Und was folgt daraus, dass Rousseff auch auf Betreiben ihres eigenen Vizes Michel Temer abgesetzt wurde, der nun für seine eigenen Mauscheleien nur deswegen nicht belangt wird, weil er Präsident ist? Die Antwort der Frustrierten und Enttäuschten ist der Wunsch nach jemanden, der hart durchgreift. Im Juni sagten 60 Prozent der Brasilianer, sie hätten kein Vertrauen in das System, aber 78 Prozent in die Armee. Bolsonaro, ein früherer Fallschirmjäger im Militär, verkörpert und verspricht den Wunsch nach Veränderung.

Bolsonaro will Niederlage nicht akzeptieren


Möglich gemacht wird die Verklärung mit fehlender Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur, wie es etwa in Argentinien zumindest mit Verzögerung geschah. Dort wurden die Soldaten in die Kasernen verbannt. Später wanderten eine ganze Reihe von Verantwortlichen für ihre Vergehen ins Gefängnis. In Brasilien hingegen kam es nicht dazu. Nie zuvor hatten so viele Ex-Offiziere für politische Ämter kandidiert wie bei den aktuellen Wahlen. In Bolsonaros Schattenkabinett sitzen sechs Generäle. Die vergangene Diktatur nennt der Präsidentschaftsfavorit einen "sehr guten Abschnitt" der brasilianischen Geschichte.

Schon jetzt ist das Militär so präsent im Land wie noch nie nach dem Ende der Diktatur. Seit Ende Februar kontrolliert ein Ex-General das Verteidigungsministerium. Der Armee übertrug Präsident Michel Temer Anfang des Jahres die Aufgabe, die Gewalt in den Armenvierteln Rio de Janeiros zu bekämpfen - mit Gegengewalt. Dieses Vorgehen will Bolsonaro weiter forcieren. Als die bekannte Bürgerrechtlerin Marielle Franco sich dagegen engagierte, wurde sie gezielt erschossen.

Die Ermittlungen zum Fall Marielle Franco sind noch nicht abgeschlossen, aber der Minister der Öffentlichen Sicherheit sagte bereits, der Mord an der Afrobrasilianerin habe mit staatlicher Beteiligung stattgefunden. Auch der Name der prominenten Lokalpolitikerin war im Stadion von Maracanã präsent. Roger Waters überließ zum Ende des Konzerts ihrer Lebenspartnerin, ihrer Schwester und Tochter die Bühne.

Bolsonaro hat schon angekündigt, was er nach der Stichwahl vorhat. Er dementierte zwar, das Militär formal an die Macht lassen zu wollen. Aber für den Fall eines Wahlsieges will er im Land mit einer "Säuberung, wie sie in Brasiliens Geschichte noch nie vorgekommen ist" politisch aufräumen, seine Kritiker ins Gefängnis stecken oder ins Exil treiben. Und wenn er doch verliert? Dann werde er das Ergebnis einfach nicht akzeptieren.

Quelle: n-tv.de

 


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